Mattia Binotto: Jeder einzelne Tag als Ferrari-Teamchef ist schwierig!
- Aktualisiert: 21.08.2022
- 09:10 Uhr
- Motorsport-Total
Mattia Binotto spricht über seine Zeit als Ferrari-Teamchef, den schwierigen Weg aus dem Tal und welchen Führungsstil er bei der Scuderia an den Tag legen will
Man kann durchaus sagen, dass die Formel-1-Saison 2022 das Beste und das Schlechteste für Ferrari-Teamchef Mattia Binotto bereithielt. Er erlebte die Höhen von brillanten Siegen und sogar einem Doppelerfolg beim Saisonauftakt in Bahrain, gleichzeitig aber die Tiefen durch Motorenschäden, Fahrfehler und Strategiepatzer.
Für einige wäre diese Achterbahn der Gefühle wohl etwas zu viel, aber Binotto treibt die Überzeugung an, dass das Team hinter den Fabrikmauern in Maranello an einem Strang zieht.
Ja, natürlich gab es Herausforderungen und sicherlich auch Dinge, die man hätte besser machen können. Aber Binotto bleibt zuversichtlich, dass sein langfristiger Plan, Ferrari die Grundlagen für einen regelmäßigen Kampf um die Weltmeisterschaft zu geben, auf Kurs bleibt.
In einem Punkt ist er sich jedoch sicher: Das Leben als Ferrari-Teamchef, von den Tiefpunkten der Saison 2020/2021 bis hin zu den Höhen und Tiefen dieser Saison, ist nichts für schwache Nerven.
Auf die Frage, ob es in den vergangenen 18 Monaten schwierige Momente für ihn gegeben habe, lächelt er: "Jeden einzelnen Tag! Ich denke, es war sicherlich keine einfache Reise von 2019, als ich als Teamchef eingesetzt wurde, bis heute", so Binotto gegenüber 'Motorsport-Total.com'.
"Wir haben 2020, ein sehr schwieriges Jahr, und dann 2021 hinter uns. Aber auch 2022, weil wir um das Beste kämpfen, gibt es manchmal Rennen, in denen wir das Potenzial des Autos nicht ausschöpfen. Es ist also nicht einfach", sagt der Italiener.
"Aber was ich sagen kann, ist, dass ich in dieser Rolle glücklich bin. Ich bin glücklich, weil ich weiß, dass ich ein tolles Team habe. Das Team ist vereint. Es ist toll zu sehen, wie sie zusammenarbeiten."
Drama an der Boxenmauer
Regelmäßig spricht Binotto über das starke Team um ihn herum, aber dennoch gibt es Zeiten, in denen er das Gewicht der Welt ganz auf seinen Schultern spürt.
Das gilt vor allem dann, wenn die Fernsehkameras in den schwierigsten Momenten von Ferrari auf ihn an der Boxenmauer schwenken: zum Beispiel, als Charles Leclerc in Baku und Spanien in Führung liegend von einem Motorschaden heimgesucht wurde.
Binotto gibt zu, dass diese Momente emotional nur schwer zu handlen sind, gleichzeitig sieht er sich auch in der Pflicht, Ruhe zu bewahren.
Auf die Frage, was ihm durch den Kopf geht und wie schwierig diese Zeiten sind, in denen Dinge auf so öffentliche Weise schiefgehen, sagt er: "Es ist aus zwei Gründen sehr schwer. Erstens, wenn es um einen Motorschaden geht, habe ich diese Abteilung in der Vergangenheit selbst geleitet. Und Rauch zu sehen, ist nie schön. Das ist also eher ein Gefühl der Depression."
"Kein Zweifel, wenn man sieht, dass wir das Rennen anführen, wie Charles in Baku und sogar Carlos [Sainz] in Österreich, dann sind das Probleme, die man nie sehen möchte", so Binotto. "Ich bleibe ruhig, aber glauben Sie mir, ich bin deprimiert. Es ist schwierig, und man braucht ein paar Augenblicke, um zu reagieren, dann muss man wirklich über die nächsten Schritte nachdenken."
"Was wird benötigt und was ist erforderlich? Und zwar nicht nur in Bezug auf die Technik, sondern eher in Bezug auf das Team. Was kann ich also tun, um zu helfen? Was kann ich tun, um sicherzustellen, dass alle ruhig und konzentriert bleiben und auch vor Angriffen und Kommentaren von außen geschützt sind?"
Binotto gibt nicht anderen die Schuld, wenn etwas schiefläuft, und regiert auch nicht mit eiserner Faust, sodass seine Angestellten um ihre Jobs fürchten müssen.
Stattdessen ist er der Meinung, dass die Mitarbeiter die Befugnis haben müssen, Entscheidungen zu treffen, die im besten Interesse der Mannschaft sind. Das heißt, er muss ihnen voll und ganz vertrauen.
"Ich glaube, dass ich die Menschen in meinem Umfeld ermutige", sagt er auf die Frage nach seinem Führungsstil. "Ich denke, ich bin nicht brutal, aber ich bin streng. Und die Menschen in meinem Umfeld wissen, dass ich sehr streng sein kann."
"Aber ich denke, dass ich darüber hinaus immer versuche, sie zu befähigen und ihnen alles zu geben, was sie brauchen, um ihre Arbeit zu tun. Und ich vertraue den Menschen um mich herum. Ich bin nicht derjenige, der auf jedes einzelne Element eingeht. Ich konzentriere mich mehr auf mich selbst und stelle sicher, dass sie, wie ich bereits sagte, alles haben, was für die Aufgabe erforderlich ist."
Binotto weiter: "Ich weiß, wie wichtig die Stimmung in der Mannschaft ist, ich weiß, wie wichtig der mentale Ansatz und die Kultur sind. Wir arbeiten innerhalb der Mannschaft sehr viel daran und versuchen, unsere Kultur im Vergleich zu früher zu ändern und die richtige Einstellung und das richtige Verhalten an den Tag zu legen."
"Ich kann sehen, dass das Team irgendwie sehr geeint ist, und ich denke, dass man das durch Transparenz erreichen kann. Ich denke, man muss auch klug sein, manchmal transparent und echt."
Der lange Weg zurück nach oben
Wenn man sich die Ergebnisse von Ferrari in den letzten Jahren ansieht, dann ist der Aufschwung in dieser Saison gegenüber den Schwierigkeiten, in denen das Team 2020 steckte, bemerkenswert - und lässt manche vermuten, dass das Team einfach zu Beginn des neuen Regelzyklus Glück hatte.
Binotto ist jedoch der Meinung, dass der Schein trügt und dass die letzten Saisons von Ferrari nicht das wahre Bild der Fortschritte des Teams gezeigt haben. Er sagt, dass die Fehler mit dem Auto und der Power-Unit für 2020 durch die eingefrorene Entwicklung während der Coronapandemie verstärkt wurden. Man habe also einen höheren Preis für sein Stolpern bezahlt.
"In der Formel 1 gibt es keine Patentrezepte", sagt er. "Es hat nicht nur ein oder zwei Jahre gedauert [um sich zu erholen]. Es war mehr als das. Ich denke, dass das, was wir heute haben, schon vor langer Zeit begonnen hat, vielleicht sogar schon 2016 oder 2017. Es war ein kontinuierlicher Aufbau des Teams, eine Verbesserung von uns selbst."
"Es geht um Organisation, es geht um Fähigkeiten, es geht um Erfahrung, es geht um Methodik und Werkzeuge, es geht um Mittel, und wenn ich sage Mittel, dann kann das ein Simulator sein, die Verbesserung des Windkanals, was auch immer man hat."
Rückblickend über die schwierige Saison 2020 erzählt der Teamchef: "Es war mehr als ein Schritt zurück, es waren drei Schritte zurück. Warum? Ich denke, dass wir im Jahr 2020 einfach unser Projekt vermasselt haben. Und dann wurde alles zu Beginn der Saison eingefroren. Es war, als ob Mercedes beim ersten Rennen der Saison eingefroren worden wäre: Was wäre dann mit ihnen gewesen?"
"Ich glaube nicht, dass dieses Team nicht in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln. Es ist in der Lage, ein gutes Auto zu bauen und um die besten Plätze zu kämpfen. Aber wenn man sein Projekt beim ersten Rennen einfriert und einige Fehler macht, wie es Mercedes in dieser Saison getan hat, dann bleibt man dort für die gesamte Saison."
"Aber 2020 ist auch das Ergebnis dessen, was wir 2019 versucht haben umzusetzen, als wir die Organisation und das Team komplett umgestaltet haben", so Binotto weiter. "In den Jahren 2020 und 2021 hatten wir nur begrenzte Möglichkeiten, das Auto zu entwickeln, das ein schwieriges Auto war. Ich denke also, dass 2020 oder 2021 nicht das widerspiegeln, was die Gesamtkapazität des Teams zu dieser Zeit war."
Binotto hat bei Ferrari auch die langfristige Perspektive im Blick: Er sieht das Team auf einer stetigen Reise an die Spitze des Feldes, nicht überstürzt innerhalb eines gewissen Zeitrahmens. "Wie ich schon 2017 gesagt habe, versucht das Team einfach in jedem Jahr Fortschritte zu machen", so der Teamchef.
"Heute denke ich, dass wir ein besseres Feedback über die Leistungsfähigkeit der Mannschaft erhalten haben. Aber zweifelsohne haben wir uns verbessert, zweifelsohne haben wir uns in jeder einzelnen Saison verbessert, und zweifelsohne denke ich, dass 2020 für uns nützlich war, um uns irgendwie noch mehr die Notwendigkeit aufzuerlegen, uns weiter zu verbessern."
"Und ab 2020 haben wir natürlich einige organisatorische Änderungen vorgenommen und die Rollen und Verantwortlichkeiten klarer definiert. Wir hatten einen neuen Simulator, also denke ich, dass es für uns ein guter Zeitpunkt war, um zu sagen: 'Okay, lasst uns einen Punkt setzen, die Schwächen hervorheben und versuchen, sie alle zu beseitigen'. Und ich denke, das haben wir getan."
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Kein veränderter Ansatz
Ferrari ist zwar stark in die Saison gestartet, die Formkurve hat vor der Sommerpause aber so nach unten gezeigt, dass Red Bull an der Spitze davonziehen konnte. Doch trotz der Probleme mit der Motorenzuverlässigkeit und der verpassten Chancen durch Strategieentscheidungen sieht Binotto den Rest der Saison als Teil der Reise, die er 2017 begonnen hat.
Darum sieht er auch keinen Anlass, die Dinge radikal zu verändern, bevor die Formel 1 in Belgien wieder aus der Sommerpause kommt. "Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, das wir anders machen müssen", sagt er. "Ich denke, wir müssen einfach unsere Reise fortsetzen, uns Schritt für Schritt verbessern und uns auf jedes einzelne Rennen konzentrieren."
"Ich denke, wir haben im Moment das Potenzial, Rennen zu gewinnen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass wir am Ende bei der Zielflagge auf dem ersten Platz stehen. Aber das bedeutet nicht, dass wir unseren Ansatz ändern müssen", so Binotto.
"Wie wir schon sagten, gibt es keine Patentrezepte, also denke ich nicht, dass wir uns ändern müssen. Wir haben bewiesen, dass wir einen guten Job machen können. Es geht nur darum, Schritt für Schritt dorthin zu kommen, sich daran zu gewöhnen. Und was auch immer das Ergebnis für 2022 sein wird, wir versuchen, für 2023 vorbereitet zu sein."