Bundesliga
"Thomas Müller auf einer Ebene mit Beckenbauer" - Interview mit Ex-FCB-Boss Christian Nerlinger vor FC Bayern gegen Borussia Dortmund
- Aktualisiert: 11.04.2025
- 16:21 Uhr
- Philipp Kessler
Der ehemalige Bayern- und BVB-Profi Christian Nerlinger spricht im ran-Interview über das Duell seiner Ex-Klubs, die Chancen des FCB gegen Inter, Max Eberl, Thomas Müller und das "Finale dahoam".
Von Philipp Kessler
Christian Nerlinger war hautnah dabei, als Borussia Dortmund zuletzt dem FC Bayern den Status als deutsche Nummer eins streitig machte.
2011 und 2012 distanzierte der BVB unter Jürgen Klopp im Meisterschafsrennen zweimal die Münchner, danach musste der damalige Sportdirektor Nerlinger den FCB verlassen.
Seitdem holte der Rekordmeister elf Titel in Serie, ehe Bayer Leverkusen vergangene Saison diese Serie beendete.
Nun sitzen die Leverkusener Tabellenführer Bayern erneut im Nacken, während der einstige Erzrivale aus Dortmund als Achter im Kampf um die Europacup-Plätze ebenfalls jeden Punkt braucht.
Daher sind die Gastgeber auch für Nerlinger im Topspiel am Samstag (ab 18.30 Uhr im Liveticker) klarer Favorit, wie er im Gespräch mit ran betont.
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Im Interview spricht der Ex-Profi, der sowohl das rote als auch das schwarz-gelbe Trikot trug und inzwischen renommierter Spielerberater ist, nicht nur über den Klassiker und seine Zeit als Manager, sondern er erzählt auch, wie sich ein "Finale dahoam" in der Champions League anfühlt.
BVB: "Es gibt mehrere Fragezeichen."
ran: Sie sind gebürtiger Dortmunder, haben für den BVB gespielt, zuvor aber beim FC Bayern als Spieler den Durchbruch geschafft. Wem drücken Sie am Samstag die Daumen, Herr Nerlinger?
Christian Nerlinger: Seit fast zehn Jahren bin ich Berater von Spielern. Wir haben eine kleine und feine Agentur. Das ist mittlerweile meine Mannschaft. Da bin ich mit dem Herzen dabei, meinen Spielern drücke ich die Daumen. Bei Spielen meiner ehemaligen Vereine sage ich immer: Der Bessere soll gewinnen.
ran: Und wer ist dieses Mal der Bessere?
Nerlinger: Die Bayern. Aus meiner Sicht haben sie einen unglaublichen Kader – in der Qualität und der Breite. Aktuell haben sie zwar mit Jamal Musiala und Kingsley Coman zwei essenziell wichtige Spieler nicht auf dem Platz, in der Offensive sind das die Unterschiedsspieler. Aber sie kann man dennoch kompensieren. Noch mal: Die Bayern haben einen Wahnsinnskader und sind den Dortmundern überlegen.
ran: Wie sehen Sie den BVB unter Trainer Niko Kovac aktuell?
Nerlinger: Dortmund ist in den vergangenen Jahren stets Rivale Nummer eins der Bayern gewesen. Davon sind sie momentan aber sehr weit entfernt. Es wirkt so, als seien die Dortmunder in einer Findungsphase. Wo wollen wir hin? Wie sieht unsere Transferpolitik aus? Welches Trainerprofil ist das richtige für uns? Wie stellen wir uns in der Führungsriege auf, wenn Hans-Joachim Watzke offiziell in die zweite Reihe geht? Es gibt mehrere Fragezeichen.
ran: Dortmund steht in der Liga nur auf Platz acht. Sehen Sie überhaupt eine Chance für den BVB gegen den FC Bayern?
Nerlinger: In 90 Minuten ist alles möglich, vor allem dann, wenn man gut organisiert ist. Die Bayern haben einen Topkader. Aber wenn sie im Defensivverbund unter Druck geraten, hat man immer Möglichkeiten. Weil sie sehr dominant und sehr hoch spielen, kann man immer Chancen kreieren. Die muss man dann aber eiskalt nutzen.
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Inter Mailand als Vorbild für den BVB
ran: So wie Inter beim 2:1 im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League am Dienstag.
ran-Reporter über FC Bayern: "Ein schwerer Rückschlag"
Nerlinger: Inter hat sehr professionell und erwachsen verteidigt. Auch die Bayern haben große Qualitäten in der Defensive. Aber manchmal wirken die Spieler hektisch und unruhig im Spielaufbau und in der Verteidigung.
ran: Hängt das nur mit den vielen Personalsorgen in der Abwehr zusammen? Dayot Upamecano fehlt nach einer Knie-OP, Alphonso Davies fällt mit einem Kreuzbandriss lange aus und Hiroki Ito mit einem erneuten Mittelfußbruch.
Nerlinger: Nein. Bayern hatte lange Zeit eine Konstellation mit Jerome Boateng und David Alaba , einen Rechts- und einen Linksfuß. Beide waren total sicher im Spielaufbau, strahlten eine Ruhe und Souveränität aus und waren zudem abgeklärt in den Zweikämpfen. Sie waren das Nonplusultra auf ihrem Peak, daran misst man alle Bayern-Verteidiger, die danach kamen und kommen. In der Defensive und im Aufbau sind die Münchner nun hektischer, unsicherer und auch anfälliger für Fehler. Das ist etwas, das auf Topniveau nicht passieren darf. Im Mittelfeld und vorne ist Bayern total gut aufgestellt. Aber wenn man ihnen wehtun will, muss man offensiv und aggressiv agieren.
ran: Der FC Bayern träumt in der Königsklasse vom Sieg im "Finale dahoam". Glauben Sie daran?
Nerlinger: Ja. Wenn sie das richtige Momentum erwischen. Wenn die entscheidenden Spieler auf dem Platz stehen. Und wenn sie die Hürde Inter überstehen. Man sieht ja, was gerade in der Champions League passiert. Real hat mit 0:3 bei Arsenal verloren. City ist nicht mehr das City, das es mal war. Der FC Bayern ist noch immer einer der Topfavoriten auf den Titel für mich.
Finale Dahoam 2.0: "Lieber jetzt ausscheiden"
ran: 2012 bei der dramatischen Pleite gegen den FC Chelsea im letzten "Finale dahoam" waren Sie dabei. Wie fühlt sich so ein Champions-League-Endspiel im eigenen Stadion an? Lähmt dieser Druck oder kann er eine Mannschaft beflügeln?
Nerlinger: Ich habe als Sportdirektor des FC Bayern zwei Champions-League-Finals erlebt. Zwei Jahre zuvor haben wir gegen Inter mit Trainer Jose Mourinho in Madrid verloren, dann "dahoam" gegen Chelsea. Ich würde jedem Spieler immer raten, sich nicht erdrücken zu lassen. Man muss mit großer Freude an solche Spiele rangehen. Was da auf einen einprasselt, überlagert in den Tagen vor dem Spiel im Prinzip alles. Wenn ich der Mannschaft etwas empfehlen würde, würde ich sagen: Behandelt es als normales Fußballspiel – und gewinnt es. Lieber würde ich jetzt gegen Inter im Viertelfinale ausscheiden, als das Finale zu Hause zu verlieren. Klar, auch die Pleite gegen Inter 2010 war bitter. Aber als Mannschaft waren wir damals überhaupt nicht so weit. Ein Champions-League-Finale im eigenen Stadion musst du einfach gewinnen. Diese Mannschaft von 2012 hätte es verdient gehabt, eine ganze Ära in Europa zu dominieren. Die Stimmung vor diesem Finale gegen Chelsea war aufgeheizt, und auch die Tage danach waren sehr intensiv.
ran: Beschäftigt Sie diese Niederlage noch heute?
Nerlinger: Nein. Zwei, drei Tage nach dem Finale hatte ich ein Vier-Augen-Gespräch mit Uli Hoeneß. Wir haben uns dazu entschlossen, die Zusammenarbeit zu beenden. Letzten Endes war aber trotzdem noch Vertrauen da. Ich habe noch die Transfergeschäfte bis zum ersten Tag der Vorbereitung weitergemacht. Wir haben Mario Mandzukic und Dante verpflichtet, mit Javi Martinez so weit verhandelt, dass der FC Bayern nur noch Ja oder Nein sagen musste. Dann wurde Matthias Sammer offiziell mein Nachfolger. Ich muss sagen, ich schaue sehr positiv zurück. Ich habe mich auch sehr für die Spieler über den Champions-League-Sieg 2013 gefreut. Eine Saison zuvor wurden wir Zweiter in der Bundesliga, haben das DFB-Pokal-Finale und das Finale dahoam verloren. Diesen Kraftakt zu schaffen, aus dieser Enttäuschung heraus das Triple zu holen – das ist für mich von Jupp Heynckes die herausragendste Trainerleistung im deutschen Fußball aller Zeiten.
FC Bayern München: Ein Sportchef "nur zur Miete"
ran: War Ihr Aus als Sportdirektor des FC Bayern eine Erlösung für Sie?
Nerlinger: Ich habe in dieser Zeit unglaublich viel investiert und wirklich mein Bestes gegeben. Ich war 2009 der Erste, der in die Fußstapfen von Uli Hoeneß getreten ist. Auch die Zeit danach hat gezeigt, dass es nicht so einfach ist, diesen Job auszuführen. Ich hatte nach dem Finale, auch noch mit etwas mehr Abstand, gute Gespräche mit Uli. Für mich hat es sich nach einem guten Ende angefühlt – völlig ohne Frust und Trauer. Es war ein Kapitel, das zu Ende ging.
ran: Sportchef des FC Bayern zu sein, ist ein Vollzeitjob. Welche Auswirkungen hat dieser Beruf auf das Privatleben?
Nerlinger: Zum ersten Mal Vater bin ich mit 35 Jahren geworden. Während meiner Zeit als Sportdirektor sind glücklicherweise noch mal zwei fantastische Jungs dazugekommen. Bayern München überlagert alles, auch das Privatleben. Das war auch ein Grund, wieso ich danach nicht mehr in die Vereinsführung gegangen bin. Ich habe die Auswirkungen auf die Familie erlebt und wollte sie auch schützen. Das war einer von mehreren Punkten, wieso ich mich für die Selbstständigkeit in der Spielerberatung entschieden habe.
ran: Ist es eigentlich ungerecht, Sportchef des FC Bayern zu sein?
Nerlinger: Nein. Für mich war es fantastisch, ein Ritterschlag. Wir haben unglaubliche Erfolge gefeiert, eine sensationelle Mannschaft aufgebaut und entwickelt, die von der Qualität und den Persönlichkeiten zu vergleichen ist mit der aus den 70ern. Die Aufgabe an sich hat mich begeistert. Es war eine tolle und gleichzeitig natürlich sehr herausfordernde Zeit.
ran: Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit Granden wie Uli Hoeneß vorstellen?
Nerlinger: Man muss immer wissen, wo man ist. Baue ich den 1. FC Heidenheim vor 16 Jahren als Manager und Trainer von einem Sechstligisten zu einem Bundesligisten? Übernehme ich ein Projekt in der 2. oder 3. Liga? Oder bin ich beim FC Bayern. Da ist man beim Marktführer. Es ist ein Gebilde, bei dem man wissen muss, wo man da reingekommen ist. Man ist ein Nachfolger von Uli Hoeneß. Er war nicht nur Manager des FC Bayern, sondern hat den Verein auch zu einem bedeutenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und sportlichen Faktor aufgebaut. Man profitiert als Sportchef sehr davon, wenn man in diesen Verein kommt. Auch der Klub profitiert von neuen Impulsen, die ein junger Sportmanager reinbringt. Aber eines muss man immer wissen.
ran: Was?
Nerlinger: Speziell Uli Hoeneß, zusammen mit Karl-Heinz Rummenigge und Franz Beckenbauer haben dieses Haus FC Bayern München mit unglaublicher Energie, harter Arbeit, totaler Identifikation und viel Qualität gebaut. Der Verein ist nicht in Investorenhand, sondern ehemalige Spieler und große Persönlichkeiten haben den FC Bayern dorthin gebracht, wo er heute ist. Das ist das Besondere. Und als Sportchef zieht man nur zur Miete ein. Das kann ein, zwei, drei Jahre oder sechs Jahre dauern.
"In einer Kategorie mit Beckenbauer, Hoeneß und Rummenigge."
ran: Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit von Sportvorstand Max Eberl, der seit März 2024 im Verein ist und mittlerweile auch kritisch gesehen wird?
Nerlinger: Das kann ich nur von außen betrachten. Wenn man gegen Inter ausscheidet – was ich nicht glaube –, dann geht die Welt unter. Wenn man gegen die Italiener und auch in der Liga gegen den BVB gewinnt, dann wandelt sich alles in komplette Euphorie um. Es ist Wahnsinn, dass mittlerweile gefühlt drei bis fünf Spiele über eine gute Saison entscheiden. Das ist die Wahrheit. Wir sind aus meiner Sicht in einem Bereich angekommen, wo diese Spiele mehr ausmachen als das nachhaltige Arbeiten. Es ist für Max Eberl sicherlich keine leichte Aufgabe, einerseits Kosten zu senken und andererseits Spieler zu halten. Die Trainerfindung war schwierig, aber die hat man mit Vincent Kompany ordentlich gelöst. Insgesamt steht der Kader super da. Ob die Verlängerungen zu teuer waren oder nicht, das mag ich nicht beurteilen.
ran: Für Wirbel hat zuletzt die Bekanntgabe der Nicht-Verlängerung von Thomas Müller gesorgt. Im Sommer ist für ihn nach 25 Jahren Schluss als Spieler des FC Bayern. Die richtige Entscheidung?
Nerlinger: Gegen Inter hat er gezeigt, dass er seinen Instinkt nicht verliert. Letzten Endes stellt sich auch immer die Frage, wie ist die Kommunikation gelaufen. Klar ist: Es gibt kein größeres Sinnbild für den FC Bayern als Thomas Müller. Ich kenne ihn recht gut. Beiden Seiten wäre super geholfen, einen gemeinsamen Weg für die Zukunft zu finden. Thomas ist ein hochintelligenter Kerl, der medial geeignet und professionell ist wie kein Zweiter. Er verkörpert den FC Bayern. Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Wege von Verein und Spieler wieder zusammenführen werden. Es war mir eine Freude und Ehre, in seiner Anfangszeit als Profi dabei gewesen zu sein. Für mich ist er in einer Kategorie mit Beckenbauer, Hoeneß und Rummenigge.
Thomas Müller vor Abschied beim FC Bayern: Diese Rekorde hält die Bayern-Legende
ran: Müller wird bei der Klub-WM in den USA im Sommer seine letzten Spiele für den FC Bayern absolvieren. Wie denken Sie als Berater über den neuen Mega-Wettbewerb?
Nerlinger: Ich glaube, dass sie eines der größten Spektakel aller Zeiten wird. Die Vereine und Spieler sagen zwar, dass die Belastung zu groß werde. Aber es gibt Rekordprämien und alle Topklubs sind da. Gratmesser bei aller Kommerzialisierung bleibt immer der Fan. Sind die Stadien voll, wird medial viel Fußball konsumiert? Solange die Fans gewisse Entwicklungen tolerieren oder unterstützen, ist alles gut. Ich glaube, dass auch der Fan diesen Wettbewerb annehmen wird. Ich kann nichts wirklich Negatives daran finden, außer dass die Belastung für Spieler größer wird. Dennoch merkt man, dass sich die Spieler auf den Wettbewerb freuen.