EM 2024
DFB-Team nach dem K.o. gegen Spanien: Tränen, Schiri-Frust – und der WM-Titel als neues Ziel
- Aktualisiert: 07.07.2024
- 10:43 Uhr
- Martin Volkmar
Nach dem bitteren K.o. gegen Spanien ist die Trauer bei Julian Nagelsmann und seiner Mannschaft groß, auch wegen eines nicht gegebenen Elfmeters. Doch der Bundestrainer sieht auch viel Positives und blickt nach vorne.
Vom DFB-Team berichten Martin Volkmar, Tobias Hlusiak und Bent Mildner
Als das dramatische EM-Aus um 20:38 Uhr zur bitteren Wahrheit geworden war, flossen die Tränen.
Bei Millionen enttäuschter Fans in ganz Deutschland, bei vielen am Boden zerstörten Zuschauern im Stuttgarter Stadion und auch bei der deutschen Mannschaft.
Gerade Julian Nagelsmann nahm der Last-Minute-K.o. beim 1:2 gegen Spanien durch Mikel Merinos Kopfballtreffer in der 119. Minute der Verlängerung sicht- und hörbar mit.
Immer wieder brach dem Bundestrainer die Stimme, als er zunächst im Fernsehen und später auf der Pressekonferenz nach Worten für das jähe Ende aller Titelträume suchte.
"Ich kämpfe mit den Tränen", gab er mit geröteten Augen zu und auch in der Kabine seien nach Abpfiff Tränen geflossen.
Das Wichtigste in Kürze
Füllkrug: "Im Moment gibt es keinen Trost"
"In der Kabine ist Stille, der Trainer hat gute Worte gefunden. Aber im Moment gibt es keinen Trost", berichtete Niclas Füllkrug: "Es ist traurig, dass es vorbei ist. Es gab eine Euphorie, ein Gemeinschaftsgefühl, das es lange nicht mehr gegeben hat."
Gerade deshalb tue es ihm leid um seine Mannschaft, betonte Nagelsmann: "Ich finde, dass sie das nicht verdient hat als Gruppe."
Und weiter: "Wir alle vermissen unsere Familien, aber es ist keiner im Camp gewesen, der unbedingt nach Hause wollte, weil es so furchtbar war. Wir hatten eine super Zeit zusammen, ein super Miteinander. Es gab keine Situation, in der ich eingreifen musste, das hast du fast nie und ist sehr außergewöhnlich."
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DFB-Team: Kimmich und Kroos sprechen in der Kabine
Diese gute Atmosphäre, die es bei den letzten verkorksten Turnieren nicht mehr in der Nationalmannschaft gegeben hatte, wurde auch deutlich bei den Reden von Joshua Kimmich und Toni Kroos an die trauernden Teamkollegen,
"Die Enttäuschung ist riesig, so eine Heim-EM kommt nur einmal im Leben", sagte Kimmich: "Viel können wir uns nicht vorwerfen, außer, dass wir die Chancen nicht gemacht haben. Bitter, sehr bitter."
Ähnlich äußerte sich Kroos, dessen herausragende Karriere an diesem Freitag ohne EM-Titel endete. "Wir haben alle alles reingelegt, um nicht zu verlieren. Da waren wir sehr nah dran, umso bitterer ist es", erklärte der 34-Jährige, dem der endgültige Abschied und vor allem die Art und Weise ebenfalls sehr nahe ging.
Er ergänzte: "Im Moment überwiegt das Turnier-Aus, das steht im Vordergrund, weil wir alle gemeinsam ein großes Ziel hatten. Dieser Traum ist ein Stück weit geplatzt, auch wenn wir in den nächsten Tagen realisieren, dass wir ein gutes Turnier gespielt haben."
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Die letzte Ballberührung seiner Laufbahn war ein Freistoß in der Nachspielzeit, der aber nicht die Köpfe der Mitspieler fand, sondern von Spaniens Keeper Unai Simon vom Himmel gepflückt wurde. Danach war alles vorbei.
DFB-Team: Füllkrug mit Pfosten- und Abschlusspech
Kurz zuvor hatte Füllkrug sogar noch die Chance zum erneuten Ausgleich gehabt, köpfte aber vorbei. Schon in der regulären Spielzeit hatte der Dortmunder Pech gehabt, als er schwer bedrängt von seinem Gegenspieler nur den Pfosten getroffen hatte.
Doch als kaum einer mehr daran glaubte, glich der ebenfalls eingewechselte Florian Wirtz in der 89. Minute nach Kimmich-Vorlage doch noch die Gästeführung durch den Leipziger Dani Olmo aus - und die Stuttgarter Arena bebte.
"Der Start war sehr nervös, viel zu viele Fouls. Spanien hat nicht gut verteidigt, wir sind simpel ins letzte Drittel gekommen, aber waren auch da sehr hibbelig", fasste Nagelsmann die übermotivierte und teils unkonzentrierte Vorstellung bis zum 0:1 treffend zusammen.
Das lag auch daran, dass die beiden eigentlich als Gamechanger vom Trainerteam gebrachten Leroy Sane und Emre Can enttäuschten und zur Pause draußen blieben. Aber auch andere Stammkräfte wie Jonathan Tah blieben unter ihrer Normalform.
DFB-Team: Erst nach Rückstand und Einwechslungen lief es besser
Erst nach dem Rückstand und Nagelsmanns gelungenen Einwechslungen fasste sich die DFB-Auswahl und spielte viel besser und zielstrebiger nach vorne.
"In der zweiten Halbzeit haben wir reagiert und waren besser im Spiel, ab der 60. Minute klar besser", erklärte der Bundestrainer: "In der Verlängerung waren es fast nur wir, die gewinnen wollten. Wir hatten drei Riesendinger. Da wäre mindestens der Ausgleich verdient gewesen."
Doch einerseits vergaben die Gastgeber selbst beste Gelegenheiten, wie bei Füllkrugs Flugkopfball (117.), andererseits profitierten die Spanier von einer höchst umstrittenen Schiedsrichterentscheidung.
DFB-Team: Schiedsrichter Taylor verweigert Handelfmeter
In der 106. Minute hatte Jamal Musiala mit einem strammen Schuss Marc Cucurella im Stafraum an der linken Hand getroffen. Der Linksverteidiger vergrößerte dabei mit dem leicht abstehenden Arm etwas die Körperfläche, hatte aber offensichtlich auch keine Kontrolle, so dass die Hand nach hinten schnellte.
Schiedsrichter Anthony Taylor (England), der nicht nur nach Ansicht von Nagelsmann "ein bisschen für Spanien gepfiffen" habe, ließ aber trotz bester Sicht weiterspielen und auch der VAR griff zum Unverständnis der deutschen Mannschaft und Fans nicht ein.
Nach Ansicht der ehemaligen Unparteiischen Patrick Ittrich und Bibiana Steinhaus-Webb eine korrekte Entscheidung, was allerdings frühere Nationalspieler und heutige TV-Experten wie Michael Ballack und Bastian Schweinsteiger komplett anders sahen.
Und nicht nur nationale Boulevardmedien wie die "Bild" ("Elfer-Beschiss"), sondern auch die internationale Presse erkannte eine eindeutige Benachteiligung der EM-Gastgeber.
"Den Deutschen wurde ein klarer Elfmeter verweigert"
"Der sensationelle Fehler von Taylor belastet den Spielverlauf, da er ein klares Handspiel von Cucurella im spanischen Strafraum nicht sanktionierte", schrieb die italienische "Tuttosport".
Und die "Gazzetta dello Sport" kommentierte: "Den Deutschen wurde ein klarer Elfmeter verweigert: Cucurella trifft nach Musialas Schuss den Ball mit dem Arm. Es ist eine echte Parade. Doch Schiedsrichter Taylor greift nicht ein. Und nicht einmal der VAR."
Eine Meinung, die natürlich auch im DFB-Team auf ungeteilte Zustimmung stieß. "Als Verteidiger ist das für mich ganz klar zumindest ein Handspiel, das man sich angucken muss", meinte Waldemar Anton.
Und weiter: "Der Spieler versucht, sich reinzuwerfen, auch wenn seine Hand ein bisschen locker war. Es geht immer darum, ob daraus ein Vorteil entstehen kann. Der Ball geht klar aufs Tor, also wurde uns ein Vorteil genommen."
Elfmeter: Nagelsmann wirbt für Regeländerung
Auch sein Trainer legte sich fest. "Das ist ein klarer Elfmeter", sagte Nagelsmann und warb dafür, "die Regel im Sinne des Fußballs anzupassen".
Sein Wunsch: "Es wäre schön, wenn wir bewerten würden, was mit dem Ball passiert. Wenn Jamal Musiala den Ball in die Stuttgarter Innenstadt schießt und Cucurella berührt ihn, würde ich nie einen Elfmeter haben wollen, aber der Ball kommt aufs Tor und er stoppt ihn klar mit der Hand. Es gibt 50 Roboter, die uns Kaffee bringen, da muss es doch auch eine KI geben, die berechnet, wo der Ball hinkommt."
Immerhin nahm er aber etwas Dampf aus der gerade in den sozialen Netzwerken sehr erregten Diskussion: "Das ist nicht der Hauptgrund, warum wir nicht weitergekommen sind."
Kroos optimistisch: "Wieder auf Augenhöhe mit den Besten"
Gleichwohl hätte die deutsche Mannschaft mit ein wenig Spielglück ihr eigenes Sommermärchen weiterschreiben können, stattdessen ist gut eine Woche vor dem Finale in Berlin alles vorbei.
DFB-Team: Nagelsmann lobt Fans und will Weltmeister werden
"Was uns trösten kann, ist, dass wir gemeinsam wieder schöne Momente mit der Nationalmannschaft hatten. Die Fans haben uns wirklich gepusht", zog Nagelsmann dennoch das Positive aus dem Comeback der Mannschaft, das ihr Ende vergangenen Jahres kaum jemand zugetraut hatte.
Nun aber ist die DFB-Elf zurück im Kreis der Topnationen und kann dank ihrer Talente wie Musiala und Wirtz zuversichtlich auf die WM 2026 blicken. Dann werden neben Kroos wohl auch die anderen beiden Weltmeister von 2014, Manuel Neuer und Thomas Müller ("Es kann natürlich schon sein, dass das mein letztes Spiel war") nicht mehr dabei sein.
Bis zum Start der Nations League im September will Nagelsmann erste Klarheit über seinen künftigen Kader haben – und dann angreifen. "Dass man zwei Jahre warten muss, bis man Weltmeister wird, tut auch weh", sagte er: "Die Aussage gefällt euch, da werden die Augen groß - aber was soll ich anderes sagen? Natürlich wollen wir Weltmeister werden."
Nagelsmanns Appell an alle: "Gemeinsam sind wir stärker"
Die Überzeugung, dass die Rückkehr in die absolute Weltspitze möglich ist, ließ Nagelsmann dann auch trotz aller Trauer ein äußerst positives Fazit der Heim-EM ziehen.
"Man hat der Nationalmannschaft berechtigterweise oft vorgeworfen, dass sie ihren Job nur abspulen will, das war nicht so. Das sollen die Jungs mitnehmen: Dass sie es geschafft haben, das Land, das viel zu viel in Tristesse und Schwarzmalerei verfällt, aufzuwecken und ihm schöne Momente beschert haben", meinte der 36-Jährige.
Weiter fügte er an: "Ich hoffe, dass diese Symbiose zwischen Fans und Mannschaft auch in der normalen Gesellschaft stattfindet und wir begreifen, dass wir als Gesellschaft mehr bewegen können und nicht, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht. Gemeinsam ist man stärker, mit seinem Nachbarn ist man stärker als ohne."