WM-Halbinfale: Deutschland spielt gegen 200 Millionen
- Aktualisiert: 08.07.2014
- 20:38 Uhr
- SID
Die deutsche Nationalmannschaft muss auf dem Weg in das WM-Finale gegen eine ganze Nation antreten. Vor allem der neue Spielstil der Brasilianer beschäftigt die DFB-Kicker.
Belo Horizonte - Das große Ziel in Reichweite, den vierten Stern vor Augen: Am Sonntag will die deutsche Nationalmannschaft im Fußball-Tempel Maracanã (ab 21:30 Uhr im Liveticker und in der App über den Reiter "Live/Ergebnisse") den letzten Schritt zum ersehnten vierten WM-Titel gehen, zuvor aber steht ihr eine Aufgabe bevor, wie sie schwerer kaum sein könnte. Um ins Endspiel einzuziehen, muss die DFB-Auswahl am Jahrestag des WM-Triumphes von 1990 im Duell der Giganten gegen Gastgeber Brasilien bestehen - gegen die Seleção, gegen eine tosende gelbe Menschenmenge im Stadion in Belo Horizonte, gegen ein ganzes Land mit seinen 200 Millionen Einwohnern.
Die Aufgabe, sagt Joachim Löw, könnte deshalb leichter kaum sein. Ja, er erwarte einen "Kampf mit Haken und Ösen", aber der Bundestrainer sagt auch: "Was gibt es Schöneres, als im Fußball-Traumland gegen einen starken Gastgeber in einem WM-Halbfinale zu stehen?" Und so präsentierte sich Löw vor der Abreise nach Belo Horizonte am Montagmorgen völlig entspannt: "Mir geht es sehr gut." Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten war er wegen der kurzen Anreise mit seinem Team erst einen Tag vor dem Anpfiff am Dienstag um 17.00 Uhr Ortszeit in den Spielort aufgebrochen.
Doch Belo Horizonte, wo die Mannschaft bei der Ankunft nach 45 Minuten Flug und 70 Minuten Busfahrt an ihrem Teamhotel Caesar Business Belvedere von rund 300 deutschen und brasilianischen Fans überaus freundlich empfangen wurde, soll nur ein kleiner, unvermeidlicher Umweg sein auf dem Weg zum großes Ziel: "Wir wollen unbedingt nochmal in Rio im Maracanã-Stadion spielen. Am 13. Juli. Wir sind noch nicht fertig", sagte Löw auf dfb.de. Die größte Strafe wäre für ihn und die Mannschaft, zum dritten Mal in Folge um die goldene Ananas zu spielen: Vom Spiel um Platz drei am Samstag in Brasília will keiner etwas wissen. "Da fahre ich lieber nach Hause", sagte Kapitän Philipp Lahm.
Stimmung wie 1990
Auch der DFB-Präsident setzt darauf, dass der Halbfinal-Fluch besiegt werden kann. "Spiele um Platz drei haben wir genug gehabt", sagt Wolfgang Niersbach. Er glaubt fest an den Gewinn des WM-Titels. Im Team herrsche eine "Stimmung wie 1990", sagte er dem Tagesspiegel. Niersbach muss es wissen, am 8. Juli vor 24 Jahren war er als Pressesprecher der DFB-Auswahl von Franz Beckenbauer dabei. "Ich glaube", betont er deshalb, "dass wir es schaffen können". Zumal ja auch "noch eine Rechnung offen" sei: Jene von der Niederlage im Finale 2002 gegen Brasilien (0:2), dem bislang einzigen WM-Duell der beiden Giganten des Weltfußballs, entschieden durch einen legendären Patzer von Oliver Kahn und zwei Treffer von Ronaldo.
Sollte Niersbach Recht behalten, sollte 24 Jahre und 5 Tage nach dem Triumph von Rom der vierte Stern auf dem Trikot hinzukommen, würde die deutsche Mannschaft mit ziemlicher Sicherheit nach ihrer Rückkehr in die Heimat in Berlin mit ihren Fans ein rauschendes Fest feiern. Trainerstab und Mannschaft wollen "nicht den zweiten vor dem ersten Schritt" tun, wie es Miroslav Klose ausdrückte. Aber geträumt wird trotzdem. "Dieser Sommer", sagt Oliver Bierhoff, "soll unvergesslich werden".
Gemeinsam mit 80 Millionen Anhängern in Deutschland, ergänzte der Teammanager mit leichtem Pathos, können die Nationalmannschaft diesen Sommer "in ein neues Märchen verwandeln". Auch Löw weiß um die Energie, die von der moralischen Unterstützung der Fans in weiter Ferne ausgehen kann. "Das war schon 2006 und 2010 so, und auch jetzt sehen wir wieder die fantastischen Bilder von den Fanfesten. Das dient uns zusätzlich als Motivation", sagt der 54-Jährige.
Brasiliens neue Holzhacker-Mentalität
Ob es im Traum-Halbfinale zwischen den Erben von Beckenbauer und Pelé auch traumhaften Fußball geben wird, ist fraglich. "Die Brasilianer sind hier nicht mehr die Zauberer", sagt Bastian Schweinsteiger. Angesichts der Paradigmenwechsel auf beiden Seiten erwartet der 29-Jährige eher einen Kampf auf Biegen und Brechen.
Schweinsteiger hat mächtig Respekt vor der neuen "Holzhacker"-Mentalität der einstigen Ballkünstler: "Ich bin für gesunde Härte. Das eine oder andere Foul der Brasilianer war aber darüber hinaus. Darauf müssen wir eingestellt sein." Auch Löw verblüfft der neue Spielstil des Rekord-Weltmeisters. "Sie reagieren manchmal an der Grenze des Erlaubten. Wir müssen uns auf einen harten Kampf gefasst machen, der mit Haken und Ösen geführt wird", sagte der Bundestrainer.
Externer Inhalt
Neymar-Ausfall als Gefahr
57 Fouls der deutschen Mannschaft (4 Gelbe Karten) stehen 96 Vergehen (10 Gelbe Karten) der Brasilianer entgegen. "Die wollen im eigenen Land unbedingt Weltmeister werden", weiß Schweinsteiger, "dazu ist ihnen fast jedes Mittel recht." Dass Superstar Neymar ausfällt, mache die ganze Angelegenheit sogar noch schwieriger, "sie werden jetzt noch aggressiver auftreten und als Team weiter zusammenwachsen."
Auch Löw bestritt, dass der Ausfall des 22 Jahre alten Wunderknaben sowie das Fehlen von Kapitän Thiago Silva (Gelbsperre) ein Vorteil für seine Mannschaft ist: "Die Mannschaft wird nach dem Ausfall von Neymar über sich hinauswachsen und neue Kräfte freisetzen, denn 200 Millionen Brasilianer stehen nun noch mehr hinter ihrer Mannschaft."