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Interview mit Max Tunon von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)

WM in Katar 2022 - UN-Experte über Sklaverei in Katar: "Fernab der Wahrheit!"

  • Aktualisiert: 20.10.2022
  • 13:08 Uhr
  • ran.de
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© Imago Images/ILO

Kurz vor der Weltmeisterschaft steht Katar wegen der dortigen Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen weiter in der Kritik. Im Interview mit ran zeichnet Max Tunon von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) allerdings ein differenziertes Bild. Er spricht sogar von einer "Erfolgsgeschichte" und hebt die Errungenschaften der UN-Unterorganisation hervor.

München/Doha - Max Tunon leitet seit Juli 2021 das Büro der Internationalen Arbeitsorganisation bzw. International Labour Organization (ILO) in der katarischen Hauptstadt Doha. Die ILO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen (UN) und hat es sich zum Ziel gemacht, die Arbeitsbedingungen weltweit zu verbessern und menschenwürdig zu gestalten. In der ILO verabschieden die 187 Mitgliedsstaaten soziale und arbeitsrechtliche Regeln und achten auf deren Einhaltung.

Tunon war für die Behörde bereits in Indien, Thailand und China tätig.

In seiner aktuellen Funktion arbeitet der 43-Jährige auch mit dem FC Bayern München zusammen. Der Rekordmeister sucht in der Diskussion um sein Engagement in Katar immer wieder den Kontakt zu Tunon und seiner Behörde und lud den Experten daher auch zu seinem "Round Table" ein.

Tunon besitzt die Staatsbürgerschaften von Großbritannien und Panama. Man könnte ihn vereinfacht auch den "Chef-Aufpasser" der UN bezeichnen, wenn es um die Rechte von Arbeitern in Katar geht.

Zum Interview via Videochat lädt er in einem sommerlichen grauen Anzug mit blauem Business-Hemd. Im Hintergrund sieht man in der Nachmittagssonne die Hochhäuser an der dortigen West Bay, dem Geschäftsviertel von Doha. 

Frage: Herr Tunon, warum war es notwendig, dass die ILO ein Büro in Katar eröffnet?

Max Tunon: Im Jahr 2014 reichten internationale Gewerkschaften Beschwerde gegen Katar ein. Der Vorwurf war, dass sich der Staat nicht an die Vereinbarungen bezüglich Zwangsarbeit, Arbeitsaufsicht und Anti-Diskriminierung halte. Die ILO überprüfte das und stellte fest, dass dem wirklich so war. Vor allem das Kafala-System ermöglichte es, dass die Arbeiter ausgebeutet wurden. Auch die Kontrolle der Arbeitsbedingungen und der Umgang mit Beschwerden, entsprachen nicht dem, was die Arbeiter benötigen.

Das Kafala-System und das Sponsorensystem dahinter binden einen Arbeiter direkt an seinen Arbeitgeber. Sie brauchen ihn für die Einreise und den Aufenthalt im Land. Sogar für die Ausreise brauchen sie die Erlaubnis des Arbeitgebers. Dieses Ungleichgewicht zwischen dem Angestellten und seinem Boss, der eine eindeutige Machtposition ausübt, führte dazu, dass Ausbeutung erleichtert wurde. Das bedeutet allerdings nicht, dass jeder Arbeiter in Katar ausgebeutet wurde. Nach einigen Jahren, vielen Verhandlungen und auch schwierigen Diskussionen wurde 2017 schließlich das Büro eröffnet. Die ILO hat sich damals mit der Regierung von Katar auf sehr umfassende und ehrgeizige Ziele geeinigt, wie die Gesetzgebung verändert werden kann. 

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Frage: Als die ILO dann vor Ort vertreten war: Welche Probleme waren die größten, auf die Sie gestoßen sind? Wie gingen Sie vor?

Tunon: Wir mussten zunächst mit der Regierung in Austausch gehen. Es war wichtig, dass wir bestehende Strukturen – gerade wenn es um die Kontrolle der Arbeitssicherheit und das Beschwerdesystem ging – verbesserten. Gleichzeitig mussten aber auch neue Mechanismen geschaffen werden, die die Situation der Arbeitskräfte dort erleichtern. Wir haben uns dann auf ein umfassendes Programm geeinigt und festgelegt, was wir gemeinsam erreichen wollen.

Frage: Waren die Probleme und Verstöße denn bei privatwirtschaftlichen Projekten und bei staatlichen Bauvorhaben gleichermaßen zu finden? Oft ist ja die Rede davon, dass es auf den Baustellen der öffentlichen Hand bessere Arbeitsbedingungen gab und gibt.

Tunon: Die Probleme gab es auf beiden Seiten. Allgemein lässt sich sagen, dass die großen privaten und öffentlichen Projekte über gute Standards verfügen. Wenn man sich aber das System von Subunternehmern darunter ansieht, findet man eine andere Situation vor: Dort sind die Arbeitsbedingungen oft schlechter. Kurz gesagt darf man hier nicht zwischen privat oder staatlich unterscheiden, sondern zwischen großen und kleinen Unternehmen. Die großen Firmen investieren einfach mehr in die Sicherheit und Gesundheit der Arbeiter als die kleinen. Das ist aber kein Problem, das es nur in Katar gibt. Das beobachten wir weltweit im Bausektor. In der Reihe der vielen Subunternehmer ist es am Ende oft der einfache Arbeiter, der leidet.

Frage: Wenn ein oder mehrere Arbeiter zu Ihnen kommen und sich beschweren: Was kann die ILO dann unternehmen? Was sind die ersten Maßnahmen?

Tunon: Die Arbeiter können sich online, telefonisch, aber auch persönlich an uns wenden. Wir suchen möglichst immer den direkten Austausch, um uns ein Bild der Sachlage zu machen und besprechen dann, wie wir die Situation verbessern und die Vorschriften auch durchsetzen können. Unsere erste Frage an die Arbeiter lautet, ob sie sich schon an die zuständige Stelle im Ministerium gewandt haben. Das ist relativ leicht online zu erledigen. Es gibt sogar einen "Whistleblower-Channel", über den man anonym Hinweise geben kann. Viele Probleme lassen sich leicht lösen, manchmal ist es aber schwieriger. Meistens geht es um ausstehende Zahlungen oder einen Arbeitgeberwechsel, der aufgrund des Kafala-Systems schwierig ist. Wir wollen, dass die Arbeiter die Möglichkeit bekommen, für ihre Rechte zu kämpfen. Seit die ILO in Katar tätig ist, gibt es das Online-Beschwerdesystem, Arbeitsgerichte und den Arbeitnehmerfond, falls Arbeitgeber nicht zahlen wollen. Damit man eine Vorstellung bekommt: Insgesamt wurden dadurch für 37.000 Arbeiter schon rund 160 Millionen Dollar ausgezahlt. Manchmal dauern die Auseinandersetzungen ein paar Monate. Wir konzentrieren uns deswegen jetzt darauf, dass es in Zukunft schneller geht.

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Frage: Wie würden Sie jetzt kurz vor der WM die Situation beschreiben?

Tunon: Wenn man die heutige Situation mit der von 2017 vergleicht, kann man enorme Fortschritte feststellen. Hunderttausenden Arbeitern geht es jetzt besser. Wir wissen aber auch, dass es immer noch viele Arbeiter gibt, die nicht rechtzeitig bezahlt werden oder denen verboten wird, den Arbeitgeber zu wechseln.

In vielen Bereichen ist es eine Erfolgsstory. Aber mit der Weltmeisterschaft darf die Entwicklung nicht enden! Wir müssen unsere Arbeit und Bemühungen auch nach der WM fortführen. Die katarische Regierung hat die ILO bereits darum gebeten, das Büro in Doha dauerhaft zu betreiben. Es gibt natürlich noch Probleme, aber die bisherigen Erfolge sind beachtlich. 

Frage: Sie haben über die guten Dinge gesprochen. Aber wenn die Weltmeisterschaft vorbei ist: Was wird aus all den Reformen, wenn die Journalisten Katar verlassen? Werden die Reformen wieder rückgängig gemacht? Diese Befürchtung gibt es jedenfalls in Europa.

Tunon: Die Regierung hat sehr deutlich gemacht, dass es bei den Reformen nicht nur um die Weltmeisterschaft geht, sondern um die langfristige Vision Katars. Katar will eine wettbewerbsfähigere, diversifizierte und wissensbasierte Wirtschaft aufbauen. Um diese Ziele zu erreichen, sind erhebliche Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen erforderlich. Nach der Weltmeisterschaft werden wir mindestens bis Dezember 2023 hier sein. Wie gesagt: Die Regierung von Katar hat uns sogar gebeten, hier dauerhaft präsent zu sein. Wir werden weiterhin mit dem Arbeitsministerium und der internationalen Gewerkschaft zusammenarbeiten. Auf strategischer Ebene diskutieren wir bei unserem jährlichen Treffen die Fortschritte und Herausforderungen. Und das werden wir auch nach der Weltmeisterschaft tun. Neben der ILO-Präsenz werden wir auch weiterhin die internationale Gewerkschaft hier haben. Deren Mitarbeiter arbeiten in verschiedenen Sektoren direkt mit den Arbeitnehmern hier vor Ort zusammen. Sie tauschen Informationen über die gemeinsamen Ziele aus, erfahren aber auch direkt, welche Herausforderungen und Probleme die Arbeitnehmer haben.

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Frage: Hat Ihnen die Regierung von Katar Garantien gegeben, dass sich die Arbeitsbedingungen weiter verbessern werden?

Tunon: Ja, sie hat sich diesbezüglich öffentlich geäußert. Sie wollen, dass die ILO langfristig bleibt, und sie wollen die Bedingungen verbessern. Wir sind der Meinung, dass Katar einen langen Weg zurückgelegt hat. Das heißt nicht, dass die Situation hier perfekt ist. Wir haben eine Reihe von Wegen erarbeitet, wie wir die noch bestehenden Probleme angehen können. Jetzt bauen wir auf dem auf, was in den letzten vier Jahren erreicht wurde. Gleichzeitig können all die Lehren, die wir aus unserer Arbeit in Katar ziehen, auf andere Länder übertragen oder für andere Länder angepasst werden. Wir müssen über die Veränderungen hier in Katar sprechen. Es wurden neue Maßstäbe für die Region gesetzt. Es wurden neue Modelle erarbeitet. Dazu gehört zum Beispiel die Hitze am Arbeitsplatz. In diesem Sommer haben wir in Europa und auf der ganzen Welt gesehen, dass Arbeitnehmer in den Sommermonaten vermehrt der Gefahr von Hitze ausgesetzt sind. Letztes Jahr hat Katar die umfassendste Gesetzgebung zum Thema Hitze am Arbeitsplatz eingeführt, die es überhaupt gibt. Wir sind der Meinung, dass Katar viele Lehren daraus ziehen kann und diese dann mit anderen Ländern teilen kann. Das wird auch ein Teil unserer künftigen Arbeit sein.

Frage: In Europa – vor allem in Deutschland – wird von Sklaverei gesprochen, wenn es um die Arbeitsbedingungen in Katar geht: Ist das Ihrer Meinung nach gerechtfertigt?

Tunon: Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Es gibt das Vorurteil, dass alle Menschen in Katar unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten - in moderner Sklaverei. Das ist fernab der Wahrheit. Es gibt definitiv Probleme. Es gibt strukturelle Probleme. Es gibt Probleme auf individueller Ebene. Aber sie müssen in den richtigen Kontext gestellt werden. Wie ich schon sagte: Letztes Jahr haben sich 24.000 Arbeitnehmer beim Arbeitsministerium beschwert. Das ist viel, aber es ist auch nur ein kleiner Teil der Arbeitnehmer hier. Der Arbeitnehmerfond zahlte 160 Millionen Dollar an 37.000 Arbeitnehmer aus. Das ist eine Menge Geld. Man muss das immer im Kontext betrachten und sagen: Hunderttausende Arbeitnehmer haben davon profitiert. Es ist wichtig, nicht die gesamte Arbeit in Katar als eine Form der modernen Sklaverei zu betrachten. Da muss man genau sein. Auch weil Sklaverei, Menschenhandel und Zwangsarbeit Straftaten sind. Die gesamte Arbeit hier als Sklaverei zu bezeichnen, ist meiner Meinung nach falsch.

Frage: In vielen westlichen Ländern wurde ein Boykott der WM diskutiert. Hätte ein Fernbleiben, zum Beispiel der deutschen Mannschaft, denn etwas geändert oder den Arbeitern geholfen?

Tunon: Von 2013 bis 2017 gab es nicht viel Austausch zwischen der ILO, der internationalen Gemeinschaft und dem Staat Katar. Wir haben keine großen Fortschritte gemacht. Als wir uns 2018 dazu entschlossen haben, zusammenzuarbeiten, konnten wir sehen, dass es eine enorme Veränderung für die Tausenden von Arbeitnehmern gibt. Wir sehen, dass vor allem der Dialog und die gemeinsamen Anstrengungen geholfen haben. Wenn man mehr Ergebnisse sehen will, und das wollen alle, muss man diesen Weg weitergehen – unabhängig vom Fußball und der WM oder irgendwelchen Boykotts.

Frage: Wie ist Ihre Zusammenarbeit mit der katarischen Regierung? Respektiert man Ihre Meinung? Es ist ja nicht unbedingt angenehm, wenn immer ein Repräsentant der ILO dabei ist und den mahnenden Zeigefinger hebt.

Tunon: Das war früher der Eindruck. Aber wir sind keine NGO. Wir sind eine UN-Agentur. Unsere Mitglieder sind Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Unsere Aufgabe ist es, die Regierungen zu unterstützen - bei der Umsetzung der nationalen Gesetzgebung im Einklang mit den internationalen Arbeitsnormen. Die Frage ist: Wie können wir sicherstellen, dass die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer richtig angewendet werden? Genau das haben wir in den letzten fünf Jahren getan. Ich denke, dass sich die Wahrnehmung der ILO in Katar geändert hat. Und zwar durch eine Reihe von Fortschritten. Sie sehen uns jetzt als Partner. Jemand, der da ist, um auf Missstände hinzuweisen, aber auch um Empfehlungen auszusprechen, wie die Dinge verbessert werden können. Wir haben Bewertungen der Arbeitsaufsichtssysteme vorgenommen. Wir haben Bewertungen der Arbeitsschutzsysteme durchgeführt. Wir haben Bewertungen zu Arbeitsunfällen durchgeführt. Wir zeigen die Probleme auf und sehen dann, was funktioniert. Auf diese Weise wollen wir zusammenarbeiten, um das System insgesamt zu verbessern. Ich denke, früher hat die Regierung das alles als Generalkritik aufgefasst, jetzt erkennen sie es als konstruktive Kritik an. Man muss auch erwähnen, dass wir nirgendwo sonst in der Golfregion eine solche Präsenz haben. Ich denke, das sagt nicht nur etwas darüber aus, was erreicht wurde, sondern auch wie es erreicht wurde. Über den Grad der Transparenz. Natürlich ist jeder ungeduldig und möchte, dass sich mehr ändert und die Dinge schneller vorangehen. Und wir selbst sind auch ungeduldig. Aber es braucht Zeit Zeit, um so etwas aufzubauen. Es braucht Zeit, um die Denkweise der Wirtschaft und der Arbeitnehmer zu ändern. Es muss das Bewusstsein der Arbeiter geschärft werden und sie müssen sich trauen, ihre Rechte geltend zu machen. Diese Veränderungen geschehen nicht nur durch die Anpassung von Gesetzen. Es braucht Zeit. Deshalb sind wir entschlossen, diese Arbeit auch nach der Weltmeisterschaft fortzusetzen.

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