Motorsport Formel 1
"Verräter", "Loser", "Wadenbeißer": Das Protokoll des Russell-Verstappen-Streits
Es ist eine lange Geschichte, die am Mediendonnerstag in Katar zwischen George Russell und Max Verstappen eskaliert ist. Und deren Ursprung nicht im Qualifying in Katar liegt, wie das oberflächlich betrachtet vielleicht den Anschein haben mag, sondern deren Samen bereits nach Mexiko, im Vorfeld des Grand Prix von Brasilien 2024, gesät wurde.
In Sao Paulo wurde am Donnerstag intensiv drüber diskutiert, wie es mit den Fahrstandards in der Formel 1 weitergehen soll. Eine Folgediskussion nach den knallharten Manövern, die Verstappen in Texas und Mexiko gegen Lando Norris durchgezogen hatte. Und Russell war der Meinung, 19 Fahrer seien sich eigentlich einig, nur einer nicht.
Wen er damit meinte, war klar: Verstappen. Und das dürfte den alten und neuen Weltmeister schon damals genervt haben. Als er dann nach dem Katar-Qualifying auch noch die Poleposition verlor und auf Platz 2 zurückgereiht wurde, weil er in einer Aufwärmrunde zu langsam gefahren sein und Russell behindert haben soll, war das wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Am Donnerstag in Mexiko ging der verbale Schlagabtausch, der schon am Sonntag in Katar begonnen hatte, richtig los. Erst verteidigte sich Russell gegen Verstappens wüste Attacken vom vergangenen Wochenende ("Er kann sich verpissen"), dann saß Verstappen in der FIA-Pressekonferenz und konterte auf Russell. Ein Wortgefecht, über das wir bereits am Donnerstag berichtet haben.
Verstappens Medienrunde nach Verstappens PK-Auftritt
Nach der Pressekonferenz war dann wieder Russell dran, in einer kleineren Medienrunde im Paddock-Häuschen des Mercedes-Teams. Russell verteidigte sich gegen Verstappens Behauptung, er habe gelogen ("Es gibt nichts zu lügen") und fand das alles irgendwie "lustig, denn noch bevor ich bei den Kommissaren ein Wort gesagt hatte, fluchte er dort schon wild rum".
Es ist der Kern der Anschuldigungen von Verstappen: Russell, nach außen hin der perfekte Schwiegersohn, immer höflich und wohlerzogen, sei in Wahrheit ein linker Verräter. "Backstabber" nannte er den Mercedes-Fahrer an einem Punkt im englischen Original. Und Russell findet, Verstappen glaube, er stehe über den Gesetzen, und das sei nicht okay.
Für Russell ist der Fall immer noch klar: "Tatsachen sind Tatsachen. Er war auf der Ideallinie, in einer schnellen Kurve. Und er fuhr langsam. Ich habe es nicht drauf angelegt, dass er eine Strafe bekommt. Ich war sowieso auf Pole und wollte nur meine Runde vorbereiten. Und wir Fahrer ticken halt so, dass wir auf der Strecke und notfalls auch bei den Kommissaren gegeneinander sind."
Irgendwann mischte sich dann auch Toto Wolff ein: "Wenn der andere Teamchef glaubt, er kann George hysterisch nennen, dann überschreitet er damit für mich eine Grenze. Er beschäftigt sich offenbar nicht mit intellektueller Psychoanalyse, aber das ist schon ein heftiges Wort. Wie unverschämt, den Geisteszustand meines Fahrers so zu kommentieren?"
Eine leidenschaftliche Attacke, gerichtet aber nicht auf Verstappen, den sich Wolff warmhalten möchte, sollte er irgendwann doch entscheiden, Red Bull zu verlassen. Sondern auf Red-Bull-Teamchef Christian Horner, seinen alten Intimfeind, der Russell in Katar als "hysterisch" bezeichnet hatte. Plötzlich liegen da wieder Vibes von 2021 in der Luft.
Die Dinge sind nicht immer schwarz und weiß, findet Wolff, sondern "man muss auch zulassen können, etwas 51:49 zu bewerten oder 70:30. Es gibt immer auch eine andere Seite". Aufgabe eines Teamchefs sei es, das auch mit den Fahrern so zu besprechen - und ohne es auszusprechen, suggeriert Wolff, dass Horner dazu offenbar nicht fähig sei.
"Wenn du das nicht tust, dann erfüllst du deine Aufgabe als Teamchef nicht. Dann bist du einfach schwach", sagt er, zunächst ohne Horners Namen unmittelbar mit der Aussage zu verknüpfen. Und weiter: "Wir kommt er dazu, so über meinen Fahrer zu reden? Ich habe 90 Sekunden lang drüber nachgedacht. Er ist ein kleiner, bellender Wadenbeißer. Meint immer, etwas sagen zu müssen."
Besonders wichtig war der Mercedes-Presseabteilung anschließend, dass Wolffs Aussagen von den Medien nicht missverstanden und auf Verstappen projiziert werden. Um das zu präzisieren, gab's über die WhatsApp-Gruppe des Teams für Journalisten eine eigene Information. Die Message ist klar - sinngemäß: "Max ist für uns nicht der Böse. Horner schon."
Da lag dann klarerweise auch die Frage an Russell in der Luft, ob er sich jetzt noch vorstellen könne, eines Tages Teamkollege von Verstappen zu sein, sollte der jemals doch zu Mercedes kommen. Für Russell nicht undenkbar: "Dinge passieren, und wir lassen sie hinter uns. Wir sind Erwachsene - und im Moment ist das nichts, worüber ich mir den Kopf zerbreche."
"Ich hatte nie die Absicht, Max öffentlich zu kritisieren. Aber dann kommt er um die Ecke und attackiert mich so persönlich. Es ist nicht so, dass ich wütend auf Max bin. Es geht mir nur drum, dass nicht nur seine Seite dargestellt wird. Ich schaue nicht tatenlos dabei zu, wie mich einer so persönlich attackiert, wie er das getan hat", sagt Russell.
Der 26-Jährige hatte am Donnerstagmorgen noch behauptet, Verstappen hätte damit gedroht, ihn am Start in Katar abzuschießen, falls nötig. Auf Nachfrage, ob er ihm so eine drastische Handlung wirklich zugetraut hätte, antwortet Russell: "Ich kenne Max schon lang, und ich weiß, wozu er fähig ist." Und er habe am Sonntag "in seinen Augen gesehen, dass er es wirklich ernst meint".
Und dann kam die Stelle, mit der Russell Verstappen nochmal in Rage getrieben hat. Denn den nunmehr viermaligen Weltmeister ausgerechnet mit Lewis Hamilton zu vergleichen und Hamilton dann auch noch als den größeren, würdigeren Champion darzustellen, das ist ein bisschen so, als würde man einem Stier ein rotes Tuch hinhalten.
"Lewis hat ihm 2021 die Stirn geboten, und Lewis hat die WM ungerechterweise verloren. Könnt ihr euch vorstellen, wie es ausgegangen wäre, wenn die Rollen genau umgekehrt verteilt gewesen wären? Wenn Max die WM verloren hätte, so, wie sie Lewis verloren hat? Masi würde heute um sein Leben fürchten!"
Verstappen könne mit Gegenwind einfach "nicht umgehen. Er hatte zweieinhalb Jahre lang das dominanteste Auto in der jüngeren Geschichte der Formel 1. Ich stelle seine fahrerischen Qualitäten nicht im Geringsten in Frage. Aber kaum hat er nicht das beste Auto, brennen ihm die Sicherungen durch", sagt Russell und erinnert in diesem Kontext an Ungarn 2024.
Er erklärt: "Er crasht in Lewis, teufelt dann über sein ganzes Team und verliert komplett die Kontrolle. Nach dem Rennen haben 25 Prozent seines Ingenieursteams Bewerbungen an Mercedes, McLaren, Aston Martin geschickte, weil sie alle fanden, mit so einem Typen können sie nicht zusammenarbeiten. Und seit Österreich hat er nicht mehr Rennen gewonnen als andere auch."
"Mir geht's nicht drum, dass Max jetzt für irgendwas bestraft wird", stellt Russell klar. "Ich verteidige mich nur gegen einen Kerl, der meine Integrität in Frage stellt, mich in der Presse attackiert. Das will ich nicht so stehen lassen. Jeder kann sich seine eigene Meinung bilden. Ich finde, er hat da eine Grenze überschritten. Das war zu viel."
Harter Tobak also - aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Denn nach Russells Interviewtermin am Morgen, Verstappens Auftritt in der FIA-Pressekonferenz und Russells Medienrunde in der Mercedes-Hospitality fand noch eine Medienrunde nur für niederländische Journalisten statt. Und die kann man eigentlich nur in voller Länge wiedergeben ...
Im Wortlaut: Was Verstappen bei den Holländern gesagt hat
Frage: "Hast du gehört, was George gesagt hat? Darüber, dass du gesagt haben sollst, seinen Kopf gegen die Wand zu stecken?" Verstappen: "Nun, das ist ja schon mal nicht wahr. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll."
Frage: "Er sagte, du warst schon total geladen, als du zu den Kommissaren kamst." Verstappen: "Nein, überhaupt nicht. Das stimmt auch nicht. Aber es überrascht mich nicht. Ich sage nur meine Meinung, was ich über ihn denke. Das gefällt ihm nicht. Aber es ist genau wie bei den Kommissaren: Er lügt. Er setzt sich da Dinge zusammen, die nicht stimmen."
Frage: "Er sagt im Grunde genommen, du seist ein Tyrann." Verstappen: "Ja, und er ist ein Verräter. Mir ist das alles egal. Es lohnt sich nicht, über solche Leute zu sprechen. Das sind Loser."
Frage: "Aber alle im Paddock reden jetzt drüber." Verstappen: "Sonst gibt's nach so einer langen Saison ja nicht viel zu reden. Mir ist das egal. Sollen sie tun, was sie wollen. Aber ich kann wohl noch meine Meinung sagen. Was in Katar passiert ist, ist einfach sehr enttäuschend."
Frage: "George sagt, 25 Prozent deiner Crew haben nach Ungarn ihre Bewerbungen bei anderen Teams eingereicht, weil sie nicht mehr mit jemandem zusammenarbeiten wollen, der sie am Funk so zusammenputzt. Stimmt das?" Verstappen: "Natürlich ist es schwer zu akzeptieren für sie, weil wir ihnen einen Haufen Leute von ihrem Motorenprogramm weggenommen haben. Ich schätze, da kommt der Frust her."
Es ist, nebenbei bemerkt, spannend, dass Verstappen an dieser Stelle die eigentliche Frage nicht beantwortet und nicht dementiert, dass einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Ungarn Red Bull verlassen wollten. Somit bleibt die Behauptung von Mercedes unwidersprochen im Raum stehen.
Frage: "Ist es das? Frust, weil es bei ihnen nicht gut läuft?" Verstappen: "Wir haben zuletzt gelacht, denn wir haben das Rennen am Ende gewonnen. Sie standen dank der Spitzfindigkeiten bei den Kommissaren vielleicht auf Pole, aber nach 300 Metern hatten wir sie wieder hinter uns. Dafür kann ich auch nichts."
Frage: "Lässt sich dein Verhältnis zu George jetzt noch reparieren?" Verstappen: "Nein, aber das ist auch egal. Wir müssen nicht beste Freunde sein. Ich bin nicht hier, um sein bester Freund zu sein. Das ist nicht mein Ziel in diesem Paddock. Daher ist mir das ziemlich egal."
Frage: "Das Verhältnis sollte also nicht besser werden?" Verstappen: "Nicht per se. Vor allem nicht, wenn sich jemand vor den Kommissaren so aufführt. Ich bin mit dem Kerl erstmal fertig."
Frage: "Er sagt, dein Verhalten kommt daher, dass du jahrelang dominiert hast und nicht damit umgehen kannst, nicht mehr das schnellste Auto zu haben." Verstappen: "Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Es geht mir nur um das, was er bei den Kommissaren gemacht hat, um nichts anderes. Ich war sehr entspannt, denn ich hatte meine WM ja schon in der Tasche. Aber er musste es so dramatisch machen und unbedingt als Erster starten. Er bettelte darum, den Platz zu bekommen, weil das für ihn einen großen Unterschied machen kann."
Frage: "Er hat Abu Dhabi 2021 erwähnt und dass Michael Masi um sein Leben fürchten müsste, wäre es damals umgekehrt gelaufen." Verstappen: "Ist das so? Er scheint ja viel zu erzählen, was nicht der Wahrheit entspricht. Solches Zeug ... Was will der Kerl eigentlich? Aber genauso ist er auch bei den Kommissaren. Er insinuiert viele Dinge, die gar keinen Sinn ergeben."
Frage: "Er war auch sehr emotional, schien fast den Tränen nahe zu sein." Verstappen: "Nein, so dramatisch war's nicht. Aber vielleicht nächstes Mal. Dann bringe ich meine Taschentücher mit."
Frage: "Netflix muss auch kommen." Verstappen: "Nein, die müssen nicht dabei sein."
Frage: "Glaubst du, dass es nach dem Winter wieder besser wird zwischen euch?" Verstappen: "Das ist mir egal. Mein Leben ist nicht besser oder schlechter deswegen."
Frage: "Findest du es merkwürdig, dass sich Toto bei Russells Medienrunde dazugestellt hat? Könntest du dir vorstellen, dass Christian bei dir auch dazukommt?" Verstappen: "Ich brauche das nicht. Ich kann für mich selbst sprechen."
Frage: "Findest du, dass so jemand Direktor der Fahrergewerkschaft GPDA sein sollte?" Verstappen: "Nein. Das ist enttäuschend zu sehen. Und ich finde auch, das setzt nicht das beste Signal in Richtung FOM und FIA."
Frage: "Wenn er also sagt, du wolltest ihn in der ersten Kurve abschießen, dann lügt er?" Verstappen: "Ich habe es so nicht gesagt."
Frage: "Was hast du dann gesagt?" Verstappen: "Jedenfalls nicht das. Aber das ist was anderes. Das ist hinter verschlossenen Türen passiert, und man muss nicht alles nach außen tragen, was dort gesagt wurde, um es noch dramatischer erscheinen zu lassen. Und wisst ihr, was mir auch auf die Nerven geht? Wie er mich bei den Kommissaren angreift, und am nächsten Tag kommt er lächelnd daher und tut so, als sei nichts gewesen. Da denke ich mir auch: 'Ey, bleib doch einfach ein bisschen weg jetzt!'"
Frage: "Du warst sauer, weil er dich bei den Kommissaren angegriffen hat. Jetzt tut er es auch öffentlich." Verstappen: "Und erfindet Sachen, die nicht stimmen, ja."
Frage: "Ist das nicht traurig?" Verstappen: "Es ist typisch für ihn. Die Leute können glauben, was sie glauben wollen. Das ist ihr Problem. Aber es ist einfach nicht wahr. Bei mir weiß man, woran man ist, sei es zu Hause oder bei den Kommissaren. Ich bin immer die gleiche Person. Das kann man nicht über jeden sagen."
Frage: "Er sagt, es ist an der Zeit, dass mal jemand gegen Max aufsteht." Verstappen: "Aufstehen? Niemand muss aufstehen. Ich mache ja nichts falsch, oder? Ich bin nur enttäuscht über sein Verhalten bei den Kommissaren. Das ist alles."
Frage: "Geht es dir mehr um das, was er bei den Kommissaren gesagt hat, oder darum, dass er zwei Gesichter hat?" Verstappen: "Um das, was er dort gesagt hat, absolut."
Frage: "Ist eine Rückversetzung um einen Platz nicht eine merkwürdige Strafe?" Verstappen: "Ja, ist es. Aber im Moment weiß man nicht, was man bei den Strafen zu erwarten hat."
Frage: "Macht das deinen Sieg nur noch süßer?" Verstappen: "Ich schätze, darum tut es so weh, ja. Aber das ist nicht mein Problem."
Frage: "Dieses Wochenende mehr davon?" Verstappen: "Katar ist Katar. Wir müssen nach vorn schauen. Ich habe meine Meinung gesagt, und damit ist es auch gut. Das Leben geht weiter."
Frage: "Erwartest du, dass das zu einem Problem wird?" Verstappen: "Nein. Es ist, wie es ist."
Frage: "Stimmst du Christian zu, dass George hysterisch war?" Verstappen: "Wenn ihr euch anhört, was an dem Wochenende alles am Boxenfunk gesagt wurde, könnt ihr euch ja selbst eine Meinung bilden. Das muss ich nicht extra kommentieren."
Frage: "War das alles nach Baku nicht mehr so überraschend?" Verstappen: "Ich bin natürlich nicht total überrascht drüber."
Frage: "George sagt, du hast genau das Gleiche gemacht, als du Lando wegen der gelben Flagge verpetzt hast." Verstappen: "Ich habe ja nur gefragt, ob die anderen auch vom Gas gegangen sind. Kann ich das nicht fragen? Sie machen es bei mir ja genauso. Nach dem Rennen habe ich versucht, den Leuten zu sagen: 'Gut gemacht!' Ich habe ja auch nicht unter VSC auf der In-Lap überholt. Wenn sie es mit mir machen, mache ich es halt auch. Das hat aber nichts mit dem zu tun, was bei den Kommissaren passiert ist. Das ist eine komplett andere Geschichte."
Frage: "Brauchst du jetzt andere Partner beim Padeltennis?" Verstappen: "Ich habe genug Freunde in meinem Leben."
Frage: "Aber ihr habt schon gemeinsam gespielt." Verstappen: "Nicht mehr so oft. Aber ja, hat's gegeben."
Frage: "Jetzt nicht mehr?" Verstappen: "Wir legen da erstmal Pause ein."