Welche Folgen sind möglich?
Skispringen: Anzug-Skandal in Norwegen - erster Sponsor springt ab, Worst Case Szenario droht - die wichtigsten Fragen und Antworten
- Aktualisiert: 10.03.2025
- 17:33 Uhr
- Chris Lugert
Das Skispringen wird von einem nie dagewesenen Skandal erschüttert, ausgerechnet WM-Gastgeber Norwegen hat massiv betrogen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Von Chris Lugert
Kurz vor dem Ende der bis dahin gelungenen Ski-Weltmeisterschaften in Trondheim sorgte ausgerechnet Gastgeber Norwegen für einen handfesten Skandal. Die Verantwortlichen der norwegischen Skispringer gaben einen massiven Betrug zu, eine ganze Sportart wurde in ihren Grundfesten erschüttert.
Die Reaktionen reichten erwartungsgemäß von Verärgerung über Ungläubigkeit bis zu Entsetzen. Aber worum geht es eigentlich genau? Welche Folgen kann der Skandal haben? Und könnte am Ende sogar das deutsche Team mit zusätzlichen Medaillen rechnen? ran liefert die wichtigsten Fragen und Antworten.
Skandal im Skispringen: Was ist passiert?
Am letzten Wochenende der Nordischen Ski-Weltmeisterschaften in Trondheim wurde Gastgeber Norwegen von einem unglaublichen Skandal im Skispringen erschüttert. Vor dem finalen Wettkampf, dem Einzel der Männer von der Großschanze am Samstag, war ein anonymes Video aufgetaucht, das eine mutmaßliche Manipulation an den Anzügen der Springer zeigte.
Das Video wurde offenbar durch einen Schlitz in der Wand eines Hotelzimmers aufgenommen. Dort ist zu sehen, wie an den Anzügen herumgebastelt wurde. Schnell entstand der Verdacht, dass die Anzüge nach dem offiziellen Chippen verändert wurden - was strengstens verboten ist. Cheftrainer Magnus Brevig war auf dem Video ebenfalls zu sehen, aber keine Athleten.
Schon während des ersten Durchgangs des Springens am Samstag legten Österreich, Slowenien und Polen Protest ein und forderten den Ausschluss aller Norweger vom Wettbewerb. Nach dem Wettkampf wurden dann auch unerlaubte Eingriffe an den Anzügen festgestellt, Marius Lindvik und Johann Andre Forfang wurden nachträglich disqualifiziert. Lindvik verlor damit seine Silbermedaille.
Zunächst stritt Norwegens Skisprung-Chef Jan Erik Aalbu jeglichen Betrug ab. "Das Video zeigt, dass unser Mann Anzüge vorbereitet. Das ist nichts Besonderes", sagte er zunächst in der "ARD" und erklärte, die dort gezeigten Anzüge seien für den kommenden Weltcup in Oslo gedacht gewesen.
Doch nahezu alle Konkurrenten und Experten sahen das anders. "Wenn das die Anzüge für die neue Periode sind, frage ich mich, warum die Anzüge auf dem Video Chips enthalten. Die gibt es erst, wenn die WM vorbei ist", erklärte etwa "ARD"-Experte Sven Hannawald. Auch der deutsche Sportdirektor Horst Hüttel hielt fest: "Die Argumente vom Kollegen Aalbu werden von allen führenden Anzugexperten zerlegt, komplett."
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Am Sonntag folgte dann der Knall. Nach einem internen Meeting stellte sich Aalbu den Journalisten und gab zu, dass das Team bewusst betrogen hatte. "Wir haben Änderungen an den Anzügen vorgenommen in dem Wissen, dass sie nicht legal sind. Wir haben versucht, das System auszutricksen. Das ist inakzeptabel", sagte er und beteuerte, nichts gewusst zu haben.
Die Veränderungen an den Anzügen seien zudem ohne Kenntnis der betroffenen Athleten vorgenommen worden. "Ja, wir haben betrogen. Wir haben alle enttäuscht, die das Skispringen lieben", sagte Aalbu.
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Welche personellen Konsequenzen gibt es?
Am Montag nach dem Skandal gab der norwegische Skiverband bekannt, dass Cheftrainer Brevig und Servicetechniker Adrian Livelten suspendiert sind. In einer Mitteilung hieß es: "Wir nehmen diese Angelegenheit sehr ernst und glauben, dass die Ausrüstung unter Verletzung der Vorschriften der FIS (Ski-Weltverband; d.Red.) absichtlich manipuliert wurde, um einen Vorteil im Wettkampf zu erlangen."
Sportdirektor Aalbu wurde dagegen ausdrücklich das Vertrauen ausgesprochen. Er hatte zuvor angekündigt, die Verantwortung für den Skandal zu übernehmen. Zugleich betonte er, ebenso wie die betroffenen Springer nichts von der Manipulation gewusst zu haben.
Die Arbeit von Brevig übernimmt vorerst der frühere slowenische Weltcupspringer Bine Norcic, seit 2022 Assistenzcoach der Norweger. Der Cheftrainer hatte bereits bei der Presskonferenz am Sonntag gefehlt. Die Indizien deuteten bereits zu jenem Zeitpunkt darauf hin, dass er maßgeblich an dem Betrug beteiligt war.
Wie sind die Regeln bezüglich der Anzüge?
Die Anzüge sind im Skispringen seit Jahren ein fragiles Thema und Auslöser schon zahlreicher Diskussionen. Aufgrund der sensiblen Flugeigenschaften können minimalste Veränderungen an den Anzügen enorme Auswirkungen im Ergebnis haben. Deshalb tüfteln die Teams allesamt an Verbesserungen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, stets an der Grenze des Regelwerks - oder auch darüber hinaus.
Um Tricksereien zu unterbinden, wurden zum Start der laufenden Saison neue Regeln eingeführt. Seither sind in jedem Anzug sieben sogenannte NFC-Chips verbaut. Diese und ein gesondertes Schriftzeichen sollten die Kontrollen verbessern und für mehr Fairness sorgen. Unerlaubte Änderungen am Anzug sollten auf diese Weise sofort auffallen.
Maximal acht der gechippten Anzüge dürfen im Laufe der Weltcup-Saison verwendet werden, für die WM erhielten die Athleten zwei zusätzliche Anzüge. Ein Anzug im Skispringen muss aus einem luftdurchlässigen Stoff bestehen und eine Dicke von mindestens vier und höchstens sechs Millimetern haben.
Außerdem darf der Anzug an keiner Stelle mehr als vier Zentimeter weiter sein als der Körper in aufrechter Haltung. Gleichzeitig muss der Anzug aber mindestens zwei Zentimeter zusätzlichen Spielraum bieten.
Wie die "Bild" berichtet, soll es Versuche gegeben haben, die Chips zu hacken. Auf diesen sind alle relevanten Daten gespeichert, spezielle Geräte sollen es aber ermöglichen, die Daten auszulesen und sogar die Seriennummer zu klonen. Anschließend soll es Versuche gegeben haben, die Chips in andere Anzüge einzubauen.
Den Norwegern wird unterdessen vorgeworfen, eine nicht erlaubte Naht am Anzug angebracht zu haben, die für zusätzliche Stabilität sorgen soll.
Wer kontrolliert die Anzüge?
Der Weltverband FIS hat einen festen Kontrolleur für die Anzüge, diese Aufgabe fällt dem Österreicher Christian Kathol zu. Er vermisst und inspiziert die verwendeten Anzüge vor und nach jedem Wettkampf.
Eine Schuld wollten die Beteiligten Kathol aber nicht zuschreiben. "Christian tut sein Bestes. Er kann nicht alles sehen", sagte Österreichs Cheftrainer Andreas Widhölzl. Es brauche "mehr Leute", was "sicher eine finanzielle Frage" sei, fügte er an.
Hüttel forderte derweil von Kathol eine lückenlose Auflistung aller von Norwegens Skisprung-Männern in allen WM-Wettbewerben inklusive der Qualifikation verwendeten Anzüge.
Welche Verantwortung trägt die FIS?
Schon vor WM-Beginn äußerte Hannawald im ran-Interview den Verdacht, dass der Verband die zu Saisonbeginn strengen Anzug-Regeln inzwischen gelockert habe - was ein Grund für die Krise der deutschen Athleten sei, die nach einem starken Saisonstart unerklärlich abstürzten.
"Es wurde ein Reglement-Paket geschnürt, bei dem durch die Blume mitgegeben wurde, dass es keinerlei Diskussionen mehr gibt: Wenn die Anzüge zwei Millimeter zu groß sind, dann sind die zu groß, also gibt es eine Disqualifikation. Doch mittlerweile wurden die Vorschriften offenbar wieder gelockert, es ist anscheinend wieder mehr Stoff in den Anzügen erlaubt. Nicht offiziell, aber offensichtlich", sagte Hannawald.
Die Folge: "Wenn der Anzugstoff zunimmt, profitieren bestimmte Nationen - allen voran die Slowenen und Norweger. Deren Sprungstil ist eher darauf ausgelegt, ähnlich wie früher, als es generell mehr Stoff gab. Der deutsche Stil ist hingegen stark von Präzision geprägt. Sobald die Anzüge gelockert werden, müssen die Deutschen ihre Technik anpassen - und das fällt ihnen schwerer als anderen."
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Daher ist es durchaus denkbar, dass die FIS die Norweger zu ihrem Betrug indirekt ermutigt hat - indem sie ihre eigenen Regeln nicht mehr streng verfolgt und umgesetzt hat.
Sind die Anzüge das einzige Streitthema im Skispringen?
Nein, der gesamte Sport ist zu einer Materialschlacht geworden. Neben den Anzügen stehen dabei auch die Bindungen an den Skiern im Vordergrund. Im Rahmen der Vierschanzentournee sorgten dabei vor allem die Österreicher für Aufsehen, die teilweise die Bindungen mit einem Sichtschutz verdeckten.
Die Tournee wurde zu einem österreichischen Triumphzug, drei Springer des ÖSV landeten auf den ersten drei Plätzen - was wenig überraschend die Frage aufwarf, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Doch auch hier gab es Diskussionen um die Anzüge. Die Schritt-Stelle, an der die vorangemeldeten Anzüge vor den Springen nochmals gemessen werden, soll tiefer sitzen als bei anderen Nationen.
Welche sportlichen Folgen könnte der Skandal haben?
Der Protest, den Österreich, Slowenien und Polen während des Springens am Samstag eingereicht hatten, forderte den nachträglichen Ausschluss aller norwegischen Athletinnen und Athleten von sämtlichen Wettbewerben im Skispringen und der Nordischen Kombination - weshalb der deutsche Verband den Protest nicht unterstützte. "Da sage ich: Da tue ich mich schon schwer, wir wollen ja nicht aufeinander rumhacken", sagte Hüttel.
Würde zumindest der Ausschluss der norwegischen Skisprung-Herren allerdings tatsächlich vollzogen werden, könnte das deutsche Team massiv profitieren. So erhielte Andreas Wellinger unter anderem nachträglich die Goldmedaille im Einzel von der Normalschanze, als er Silber hinter Lindvik gewann. Außerdem gäbe es jeweils Bronze im Männer-Teamwettbewerb sowie im Mixed, als Deutschland zweimal Vierter geworden war.
Allerdings kündigte FIS-Renndirektor Sandro Pertile bereits an, dass die Ergebnisse wohl Bestand hätten. Tatsächlich waren die Kontrollen der Anzüge bei den übrigen Springen unauffällig geblieben, auch Aalbu erklärte, die Manipulation sei nur vor dem finalen Wettkampf erfolgt. Ob es eine rechtliche Grundlage dafür gäbe, aus rein sportethischen Gründen wegen des erwiesenen Betruges die gesamte Mannschaft nachträglich aus allen Wertungen zu nehmen, darf bezweifelt werden.
Welche Folgen könnten für das Skispringen entstehen?
Noch ist nicht abzuschätzen, was der Skandal für das Skispringen in seiner Gesamtheit bedeutet. Norwegen hat im Skispringen erst kürzlich einen Sponsoren-Deal mit Adidas abgeschlossen - ob der bestehen bleibt, ist offen.
Ein anderer Sponsor des norwegischen Teams hat bereits Konsequenzen gezogen. Die Versicherungsfirma HELP kündigte gegenüber dem Sender "NRK" an, das Sponsoring mit sofortiger Wirkung einzustellen. "Es versteht sich von selbst, dass unser Logo nicht auf den Trikots eines Teams zu finden ist, das betrügt", begründete man den Schritt.
Generell ist das Skispringen extrem von Sponsoren abhängig, eine Massenflucht infolge des Skandals wäre ein Desaster. Das Image einer Sportart, die zumindest mit Doping nie große Probleme hatte, ist so oder so massiv angeknackst.