Europa League
Reiner Calmund exklusiv: "Habe schon viele Pferde vor irgendwelchen Apotheken kotzen sehen"
- Aktualisiert: 22.05.2024
- 11:25 Uhr
- Andreas Reiners
Bayer Leverkusen kann in dieser Woche das Triple perfekt machen. Hautnah mit dabei: Ex-Bayer-Zampano Reiner Calmund. Wir haben uns mit dem 75-Jährigen über die Schale, Vizekusen, Schlüsselmomente und die Zukunft unterhalten.
Das Interview führte Andreas Reiners
Am Samstag war das Thema "Vizekusen" für Reiner Calmund endlich erledigt.
Da konnte auch der 75-Jährige die Schale in Empfang nehmen. Doch für den früheren Manager von Bayer Leverkusen war es das noch nicht: Er reist mit dem neuen Deutschen Meister mit, wenn der in der Europa League am Mittwoch gegen Atalanta Bergamo (ab 21:00 Uhr im Liveticker) und am Samstag im DFB-Pokalfinale gegen den 1. FC Kaiserslautern zwei weitere Titel jagt und das Triple perfekt und damit eine historische Saison krönen will.
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Wir haben uns mit Calmund vor den beiden Endspielen über die emotionale Begegnung mit der Schale, Genugtuung, den Begriff Vizekusen, Schlüsselmomente und die Zukunft des Klubs unterhalten.
ran: Reiner Calmund, für welche Emotionen sorgt diese unglaubliche Saison der Leverkusener bei Ihnen?
Reiner Calmund: Das sind Emotionen pur. Noch größere, als ich es erwartet habe. Ich bin ja schon einiges gewöhnt, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Ich habe mit Bayer den DFB-Pokal und den UEFA-Pokal gewonnen. Wir haben ordentlich gefeiert, haben aber auch diese Vize-Titel und Enttäuschungen erlebt. Ich kann das alles gut aushalten, aber es war abgesehen von den tollen Momenten teilweise auch fast Stress, muss ich sagen. Aber positiver, schöner, angenehmer Stress. Endlich haben wir es geschafft.
Das Wichtigste in Kürze
Reiner Calmund: Endlich die Schale in der Hand
ran: Wie war es denn für Sie, als Sie am Samstag die Schale auch in die Hände nehmen konnten?
Calmund: Es war für mich das Allergrößte, die Schale mit Leverkusen zu gewinnen, obwohl ich weder ein Tor geschossen noch eines verhindert habe und auch im Verein nicht verantwortlich war und keine Entscheidungen getroffen habe. Aber ich fühlte mich emotional noch mehr eingebunden als damals in der Zeit, als ich der erste Verantwortliche war. Und für mich ist es das Allerwichtigste und Allerschönste, dass die Meisterschaft endlich in Leverkusen ist. Ich habe immer etwas ketzerisch gesagt: 'Solange ich lebe, möchte ich die Schale in Leverkusen in den Arm nehmen und sagen: Schön, dass du doch nochmal nach Leverkusen gekommen bist.' Das habe ich getan, mit Genugtuung und mit großer Zufriedenheit.
ran: Wie groß ist die Genugtuung bei Ihnen?
Calmund: Ich habe in meinem Leben schon so viele Pferde vor irgendwelchen Apotheken kotzen sehen. Deshalb ist es einfach eine riesige Genugtuung. Ich freue mich unwahrscheinlich darüber, dass die Schale auf meine alten Tage doch nochmal vorbeischaut.
ran: Sie waren lange in Leverkusen tätig, haben ein Stück des Weges begleitet und geebnet. Finden Sie, dass Sie einen Anteil haben am Erfolg?
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Calmund: Die Verantwortlichen um Fernando Carro, Werner Wenning, Simon Rolfes und Xabi Alonso haben mir das Gefühl gegeben, dass ich einen Anteil habe. Sogar ein bisschen zu viel Gefühl nach meinem Geschmack. Sie haben mich mehr eingebunden als ich erwarten konnte. Und dafür bin ich ihnen sehr dankbar, obwohl sie ein bisschen übertrieben haben, würde ich fast sagen. Aber es stimmt natürlich, dass ich wesentlich daran beteiligt war, den Verein mit aufzubauen.
ran: Wie sehr hat Sie diese Saison in ihrer Dominanz und Einzigartigkeit denn überrascht?
Calmund: Schon sehr. Und wenn du so oft wie wir Vize wirst, oft sehr unglücklich, auch aufgrund großer Schiedsrichterfehler, aber auch aufgrund eigener Dämlichkeit, dann ist der Erfolg eine riesige Erlösung. Ich habe es schon während der Saison festgestellt, dass es sich andeutet. Wie zum Beispiel beim Spiel des FC Bayern in Bochum, was eigentlich eine klare Geschichte für München sein sollte. Und dann schießen die Bochumer plötzlich das 3:1. Ich gebe zu: Ich konnte das Spiel nicht mehr weiter im Fernsehen schauen, das war für mich nervlich nicht mehr möglich. Ich habe mich dann ins Schlafzimmer zurückgezogen, die Tür abgeschlossen und wollte nichts mehr hören und sehen, bis es zu Ende war. Das war alles schon Wahnsinn in dieser Saison, das war nicht normal.
ran: Aber sind Sie während der Saison nie ruhiger geworden? Die Mannschaft selbst hat ja nichts aus der Ruhe oder aus dem Tritt gebracht…
Calmund: Es war gut, dass ich mit meinem Nervenkostüm selbst nicht mitgespielt habe. Ich bin der Mannschaft einfach sehr dankbar, dass sie das geschafft hat.
Reiner Calmund: Zwei Schlüsselmomente gab es
ran: Gab es für Sie Schlüsselmomente?
Calmund: Ja, Anfang des Jahres gab es zwei entscheidende Momente. Leverkusen musste mehrere Spieler für den Afrika Cup abstellen, dazu gab es auch Verletzte wie der Torjäger Boniface, oder der junge argentinische Weltmeister Palacios. Doch das hat für Xabi Alonso keine Rolle gespielt. Ich habe kein Wort des Jammerns von ihm gehört, dass ihm wichtige Spieler fehlen, auch vor dem Spiel gegen die Bayern nicht. Und das ist für mich auch entscheidend: Dass die Spieler, die nachrücken, nicht pausenlos in der Zeitung lesen müssen, wie der Trainer bedauert, dass bestimmte Spieler nicht dabei sind. Ein weiterer wichtiger Punkt: Dass er nach einem Spiel mal sein ganzes Team, die Assistenztrainer, die Mediziner, Betreuer etc. mit in die Kurve genommen hat. Das war für mich auch ein Zeichen, dass sich das Team hinter dem Team auch gewürdigt fühlt. So hat er alle abgeholt und mitgenommen.
ran: Es geht jetzt Schlag auf Schlag: Schale, Europa-League-Finale, Pokal-Endspiel – wie schwierig ist es da für die Mannschaft, weiter den Fokus zu behalten und die Spannung hochzuhalten?
Calmund: Das ist sehr schwierig. Aber 51 ungeschlagene Spiele in Folge und dass man ohne Niederlage Deutscher Meister geworden ist – das ist schon eine Hausnummer und eine Ansage, dass die Mannschaft das bewältigen kann. Das ist eine einmalige Bilanz, die wird so schnell auch nicht mehr zu toppen sein.
ran: Schwingt bei Ihnen aufgrund der Vergangenheit dieses "Vizekusen" noch ein bisschen mit als Sorge vor den beiden Endspielen? Oder ist das endgültig abgehakt?
Calmund: Vizekusen kommt ja nicht vom DFB-Pokal, denn den haben wir schon mal gewonnen. Und der Begriff stammt auch nicht aus europäischen Wettbewerben, denn den UEFA-Pokal haben wir ja auch schon mal gewonnen. Das ist alles nicht das Thema. Vizekusen basiert ausschließlich auf der Bundesliga und das ist vorbei. Schluss. Aus. Nikolaus.
ran: Mittwoch steht das Endspiel in der Europa League an. Wie sehen Sie die Ausgangslage gegen Atalanta?
Calmund: Das ist eine schwere Aufgabe. Ich habe natürlich die Leverkusener Unterwäsche an, also sage ich 60:40 für Leverkusen. Aber ich bin kein Traumtänzer, denn wenn du auf die italienische Tabelle schaust, weißt du auch, dass Bergamo sich ziemlich sicher für die Champions League qualifiziert hat.
ran: Worauf wird es gegen die Italiener ankommen, nicht nur, was den Gegner angeht, sondern auch aufgrund der speziellen Atmosphäre eines Endspiels?
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Calmund: Dass du jetzt nach so einer langen Saison noch einmal volle Konzentration an den Tag legst, dass du deine Topform abrufen kannst und dass du auch das Quäntchen Glück hast. Und mental bereit bist, denn Fußball ist immer auch Kopfsache.
ran: Sie sind mit der Mannschaft unterwegs und sehen beide Endspiele. Was macht das mit Ihren Nerven?
Calmund: Da kann ich nur sagen: Gott sei Dank haben die Spieler und der Trainer bessere Nerven als ich.
Reiner Calmund: Schön den Ball flachhalten
ran: Welches Endspiel ist schwieriger?
Calmund: Das nächste, das ansteht, ist immer das schwierigste. Bergamo hat ab dem Achtelfinale in der Euro-League den souveränen portugiesischen Meister Sporting Lissabon, danach den FC Liverpool mit Jürgen Klopp und im Halbfinale Olympique Marseille ausgeschaltet. Ich hatte das mit den Apotheken und Pferden schon erwähnt, deshalb bin ich immer vorsichtig. Natürlich ist ein Bundesligist, wenn alles rund läuft, gegen einen Zweitligisten wie den 1. FC Kaiserslautern automatisch der Favorit. Aber wenn das immer so wäre, würde Kaiserslautern gar nicht im Endspiel stehen. Also schön den Ball flachhalten und schön 'Hallo wach'.
ran: Mit wie vielen Titel steht Leverkusen am Ende da?
Calmund: Ich würde mir wünschen mit drei Titeln, aber ich bin mit dem einen schon vollkommen glücklich. Drei wären perfekt, aber da will ich gar nicht groß von sprechen. Das nächste Spiel ist entscheidend. Das nächste Spiel ist gegen Atalanta Bergamo. Das ist eine italienische Mannschaft, die sich ja in dieser Saison gegen richtige Granaten durchgesetzt und völlig verdient für das Finale qualifiziert hat.
ran: Unabhängig vom Ausgang dieser Woche: Wie groß ist denn die Chance, dass jetzt in Leverkusen eine Ära eingeleitet werden kann?
Calmund: Eine Ära wie Bayern München wird keiner mehr schaffen. Aber ich glaube, dass die Mannschaft sehr, sehr selbstbewusst ist, was sie nach so einer Serie, die sie gespielt hat, auch sein kann. Sie haben einen Top-Trainer, sie haben ein erstklassiges Management, das Unternehmen steht auch zu ihnen, was willst du also mehr? Das Ziel ist jetzt, sich auch in Europa als Spitzenmannschaft festzusetzen. Dass sich Bayer 04 in der Bundesliga oben etabliert, da bin ich mir ziemlich sicher. Natürlich ist es nicht so, dass man jetzt über Jahre die Bundesliga dominiert. Da wären wie wieder in der Traumtänzerabteilung.
ran: Was muss getan werden, damit es zumindest in ähnlicher Weise weitergeht?
Calmund: Die Mannschaft bleibt im Wesentlichen zusammen, hier und da wird man am Kader stricken müssen. Das werden Alonso und Simon Rolfes als Sportdirektor schon machen. Und die wirtschaftliche Basis, die stimmt auch. Das sieht für die Zukunft alles sehr ordentlich aus.