DFB-Beben: Völler übernimmt für Flick gegen Frankreich
Aktualisiert: 12.09.2023
11:25 Uhr
SID
Bundestrainer Hansi Flick ist einen Tag nach der 1:4-Blamage gegen Japan entlassen worden. Gegen Frankreich wird Rudi Völler auf der Bank sitzen.
Hansi Flick posierte noch geduldig für Fotos, als das öffentliche Training längst beendet war. Ein Hauch von Abschied wehte auf seiner Ehrenrunde schon durch das kleine Wolfsburger Stadion - und wenige Stunden später hatte er Gewissheit.
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gab nach der Bankrotterklärung gegen Japan die Trennung vom schwer angeschlagenen Bundestrainer bekannt.
Beim Spiel am Dienstag (ab 21 Uhr im Liveticker) in Dortmund gegen Vize-Weltmeister Frankreich werden Sportdirektor Rudi Völler, U20-Trainer Hannes Wolf und Sandro Wagner einmalig auf der Bank sitzen.
"Für mich ist das kein einfacher Moment, denn ich bin im Februar beim DFB angetreten, um Hansi Flick mit all meinen Möglichkeiten zu unterstützen, ihm den Rücken freizuhalten, damit er sportlich erfolgreich sein kann", sagte Völler.
Doch der sportliche Erfolg blieb aus, neun Monate vor der so wichtigen Heim-EM musste der DFB handeln. "Die Gremien waren sich einig, dass die A-Nationalmannschaft der Männer nach den zuletzt enttäuschenden Ergebnissen einen neuen Impuls benötigt", wird DFB-Präsident Bernd Neuendorf in einer Mitteilung zitiert.
Er fügte nach der "schwierigsten Entscheidung seiner bisherigen Amtszeit" an: "Wir brauchen mit Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land eine Aufbruchstimmung und Zuversicht."
Durch die Trennung von Flick nach 770 Tagen sorgte der Verband für ein Novum: Keiner der zehn Vorgänger Flicks war entlassen worden. Nach dem sportlichen Offenbarungseid beim blamablen 1:4 (1:2) gegen Japan blieb den Bossen keine andere Wahl.
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Flick-Nachfolger noch nicht gefunden
"Der sportliche Erfolg hat für den DFB oberste Priorität. Daher war die Entscheidung unumgänglich", sagte Neuendorf. Eine Dauerlösung präsentierte der Verband nicht. Ziel sei es aber, möglichst "zeitnah die Nachfolge zu regeln".
Julian Nagelsmann, Oliver Glasner und Stefan Kuntz werden gehandelt und könnten die Aufgabe erstmals bei der umstrittenen US-Tour im Oktober ausüben. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus forderte Matthias Sammer und lehnte selbst den Job ab.
Doch jetzt soll gegen Frankreich erst einmal ein weiteres Desaster verhindert werden - mit Völler, aber ohne Flick.
Dem 58-Jährigen half auch sein Startrekord mit acht Siegen gegen zweitklassige Gegner nicht weiter. Der einstige Münchner Erfolgscoach war durch das WM-Debakel in Katar zu sehr beschädigt, um den erhofften Turnaround und den so dringend benötigten Stimmungsumschwung herbeizuführen. Auch wenn er das unmittelbar nach dem entlarvenden Auftritt gegen Japan anders sah. "Ich finde, wir machen das gut, und ich bin der richtige Trainer", sagte Flick in einer bemerkenswerten Selbsteinschätzung.
DFB: Die Chronologie des Niedergangs der Nationalmannschaft
DFB-Elf in der Krise Neun Monate vor der Heim-EM 2024 steckt die DFB-Elf tief in der Krise. Das 1:4-Debakel gegen Japan ist der vorläufige Höhepunkt des Niedergangs eines Teams, das die Negativ-Entwicklung selbst offenbar nicht wahrhaben will. Ein Blick ins Geschichtsbuch verdeutlich allerdings, dass der Abstieg schon vor vielen Jahren begonnen hat.
EM 2016: Löw hofft auf Double Als amtierender Weltmeister rechnete sich das DFB-Team mit Jogi Löw auch bei der EM 2016 Titelchancen aus. Auch ohne Philipp Lahm oder Miroslav Klose, die längst ihre Karriere beendet hatten. Bastian Schweinsteiger war zwar noch dabei, hatte seinen Zenit aber auch schon überschritten.
Deutschland bei EM 2016 Mitfavorit Im Vorfeld der EM lief es nicht rund Das 0:2 gegen Frankreich in Paris, während dem Terroristen 130 Menschen töteten, hinterließ mental Spuren. Zudem gab es Niederlagen gegen England und die Slowakei. Der erste Sieg gegen Italien (4:1) seit 1995 verklärte das Bild. Deutschland galt bei der EM als Mitfavorit auf den Titel, Bundestrainer Löw als unantastbar.
Kimmichs Stern geht auf Das Turnier verlief glanzlos. Arbeitssiege gegen die Ukraine (2:0) und Nordirland (1:0) , ein torloses Remis gegen Polen und dann ein 3:0-Pflichtsieg im Achtelfinale gegen die Slowakei. Einziges Highlight: Bei der EM ging der Stern des 21-jährigen Joshua Kimmich auf – als Rechtsverteidiger.
2016: Schweinsteiger Pechvogel beim EM-Aus Als die DFB-Elf im Viertelfinale dann erstmals Italien bei einem großen Turnier bezwang (6:5 i. E. ), war die Euphorie groß. Die Ernüchterung kurz darauf noch größer. Mit 0:2 schied der Weltmeister sang- und klanglos im Halbfinale gegen Frankreich aus. Ausgerechnet WM-Held Schweinsteiger leitete die Pleite mit einem verursachten Elfer ein.
Löw bleibt nach EM 2016 im Amt Trotzdem: Halbfinale ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Zwar gab es langsam erste Stimmen, die über eine Ablösung Löws spekulierten. Der Bundestrainer aber wollte die Scharte wieder auswetzen und versprach Wiedergutmachung bei der WM 2018. Fußball-Deutschland vertraute. Zunächst zu Recht.
Mega-Serie bei WM-Quali und Sieg im Confed Cup 2017 gewann eine deutsche B-Elf den Confed Cup, die U21 wurde Europameister. Die erste Garde überzeugte bei der Qualifikation für die WM 2018 mit einer weißen Weste. Zehn Spiele, zehn Siege, 43:4 Tore. Insgesamt blieb die Nationalmannschaft 22 Spiele in Serie ungeschlagen. Doch die Zahlen blendeten.
Wake-Up-Call gegen Österreich vor WM 2018 Ende 2017 kippte das Momentum. Die Leistungen wurden Stück für Stück schlechter. Gegen Topteams wie England (0:0), Frankreich (2:2) und Spanien (1:1) ging nicht mehr als ein Unentschieden. Anfang 2018 beendete Brasilien den deutschen Siegeszug (0:1). Den ersten Wake-up-Call gab’s aber erst kurz vor dem Turnier, als Österreich die deutsche Elf erstmals seit 32 Jahren besiegte (1:2).
Erste Risse Abseits des Platzes gab es erste Risse zwischen der Mannschaft und den Fans. Der Vorwurf: Der DFB würde sich immer mehr von den Fans entfremden, Marketing-Aktionen waren wichtiger als tatsächliche Fan-Nähe. Hinzu kam Erdogan-Gate.
Erdogan-Gate vor WM 2018 Kurz vor der WM posierten Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Fans forderten den Rauswurf beider Spieler, Löw entschied sich dagegen. Während sich Gündogan später von der Aktion distanzierte, führte Özils Verhalten letztlich zu seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft.
WM: Quartier-Ärger beim DFB Zudem gab es intern Querelen um das WM-Quartier. Während Löw lieber in der Sonne von Sotschi trainieren wollte, wählte Teammanager Oliver Bierhoff mit Watutinki eine Unterkunft mit "Sportschulen-Charme" eine Fahrstunde von Moskau entfernt. Weil sich einige Spieler die Nächte mit Playstation-Zocken um die Ohren schlugen, musste der DFB nachts sogar das W-LAN abstellen.
Erstes Vorrunden-Aus bei einer WM Prompt ging auch erstmals seit 1982 ein Auftaktspiel einer WM oder EM verloren. 0:1 gegen Mexiko. Toni Kroos‘ Last-Minute-Freistoßtor zum 2:1 gegen Schweden in der Nachspielzeit schürte zwar wieder Hoffnung, doch mit einer kampflosen 0:2-Niederlage gegen Südkorea im dritten Gruppenspiel schied Deutschland erstmals überhaupt bei einer WM in der Vorunde aus.
2018: Negative Bilanz für DFB-Team "Löw raus"-Rufe machten die Runde. Doch entgegen der Stimmung im Land hielt der DFB am Bundestrainer fest. So wollte sich Löw nicht verabschieden. Doch es wurde nicht besser. Mit schwachen Leistungen in der neu eingeführten Nations League beendete die Nationalmannschaft erstmals seit 1985 ein Jahr mit einer negativen Bilanz.
2020: 0:6-Blamage gegen Spanien Löw plante den Umbruch, musterte Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng aus, um jüngeren Spielern im Hinblick auf die EM 2020 eine Chance zu geben. Nachdem die EM wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben wurde, blieb nur die Nations League als Gradmesser. Am 17. November 2020 setzte es ein historisches 0:6 gegen Spanien. Der vorübergehende Tiefpunkt.
Gescheiterter Umbruch Im Frühjahr holte Löw reumütig Müller und Hummels zurück. Es war notwendig aber auch ein Eingeständnis, dass der Umbruch zunächst gescheitert war. Sowohl die EM-Vorbereitung als auch die WM-Quali verliefen durchwachsen, so dass das Team angeschlagen ins Turnier ging. Vielleicht würde ja doch alles gutgehen? Ging es bekanntlich nicht.
2021: Aus für Bundestrainer Löw Ausgerechnet Rückkehrer Hummels fabrizierte beim 0:1 gegen Frankreich ein Eigentor. Das 4:2 gegen Portugal war nur zwei portugiesischen Eigentoren zu verdanken, das 2:2 gegen Ungarn eine Zitterpartie. Das Aus im Achtelfinale beim 0:2 gegen England folgerichtig. Löw hatte nun ein Einsehen. Das 198. Spiel als Bundestrainer sollte sein letztes sein. Auch Kroos trat zurück.
2021: Flick übernimmt Hansi Flick, bis 2014 Jogis Co-Trainer, übernahm im September 2021 mit breiter Brust. Schließlich hatte er mit dem FC Bayern München gerade das Sextuple gewonnen. Fußball-Deutschland war wieder zuversichtlich. Es blieb ein gutes Jahr bis zur WM 2022 in Katar, um den Karren wieder flott zu bekommen.
2022: Prestige-Erfolg gegen Italien Flick startete mit einer Acht-Spiele-Siegesserie gegen schwächere Gegner, schlug sich auch mit Unentschieden gegen die Niederlande, Italien und England (jeweils 1:1) tapfer. Das 5:2 gegen Italien in der Nations League im Sommer 2022 blieb jedoch der Höhepunkt seiner Amtszeit.
Vorrunden-Aus in Katar Danach ging es steil bergab. Schon die unmittelbare WM-Vorbereitung verlief durchwachsen mit der ersten Niederlage für Flick als Bundestrainer gegen Ungarn (0:1). Es folgte das desolate Vorrunden-Aus in Katar, bei dem sich die Nationalmannschaft mit der Menschenrechtslage im Gastgeberland eher für Politik als für den rollenden Ball und den nächsten Zweikampf zu interessieren schien.
Flick entlassen Seitdem befand sich das Flick-Team im freien Fall. Verunsichert, uninspiriert, erfolglos. Mit zuletzt drei Pleiten in Folge gegen Polen (0:1), Kolumbien (0:2) und Japan. Am Sonntag zog der DFB daher Konsequenzen und entließ den glücklosen Bundestrainer. Flick verabschiedet sich damit mit zwölf Siegen aus 25 Spielen.
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Flick wollte weitermachen
Auch bei der öffentlichen Einheit vor 2376 Fans am Sonntagmittag gab sich der einstige Co-Trainer von Joachim Löw noch kämpferisch. "Ich fighte weiter", rief er den Anhängern zu und kitzelte ein Kleinkind im Mini-Trikot am Bauch. Ihm schwante aber Böses: Im Profi-Fußball sei "vieles schwer vorherzusagen".
So holten ihn die Sorgen auch schnell wieder ein. Die DFB-Verantwortlichen um Neuendorf, seinen Vize Hans-Joachim Watzke und Völler steckten am Nachmittag die Köpfe bei einer Krisensitzung zusammen.
Die Statistiken waren zu alarmierend. Drei Niederlagen der Nationalmannschaft in Folge gab es zuletzt vor 38 Jahren unter Franz Beckenbauer. Von den vergangenen 17 Spielen wurden nur vier gewonnen. Seit dem WM-Desaster gab es nur einen Sieg in sechs Begegnungen.
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Flicks Plan ging nach hinten los
Flick hatte zum Start in die EM-Saison durch die taktischen und personellen Veränderungen seine letzte Patrone abzufeuern versucht, sie blieb im Lauf stecken. Offensiv einfallslos, defensiv hilflos - nur dank Torhüter Marc-Andre ter Stegen fiel die höchste Heimniederlage seit 2001 (1:5 gegen England unter Teamchef Völler) nicht noch dramatischer aus.
Flicks Umstellungen, der neue Kapitän Ilkay Gündogan, die Degradierung von Joshua Kimmich auf die rechte Abwehrseite - damit hatte der Bundestrainer ein Lebenszeichen senden wollen. Seht her, ich kämpfe, ich bin modern. Wir haben jetzt eine Spielphilosophie!
Es ging absolut krachend schief. So auch die Idee, den total überforderten Nico Schlotterbeck hinten links in einen aussichtslosen Kampf gegen viel schnellere und wendigere Japaner zu schicken.
Die Fans in der Volkswagen-Arena pfiffen lautstark, der Rauswurf des Bundestrainers wurde gefordert. Die Spieler stellten sich noch hinter ihren Chef. "Wir sind gerade nicht gut genug. Die Mannschaft muss sich hinterfragen", gab Gündogan zu Protokoll.
Thomas Müller sagte der Fußball-Nation, was überfällig war. Deutschland gehöre eben nur noch in der Selbstwahrnehmung "zu den besten 10 oder 15 der Welt", vielleicht in der Theorie, "aber nicht in der Realität".