EM 2024
DFB-Team gegen Schweiz: Darum muss Niclas Füllkrug in die Startelf - Erkenntnisse zum EM-Spiel
- Aktualisiert: 24.06.2024
- 16:20 Uhr
- Martin Volkmar
Kann der Last-Minute-Ausgleich gegen die Schweiz dem DFB-Team einen Push wie bei der WM 2006 geben? Muss Julian Nagelsmann seine Startelf im Achtelfinale ändern? Und was ist eigentlich mit Toni Kroos los? ran hat die Erkenntnisse des Spiels zusammengefasst.
Vom DFB-Team berichten Martin Volkmar, Tobias Hlusiak und Bent Mildner
Andreas Rettig war sichtbar erleichtert, als er ran nach dem Last-Minute-Gruppensieg über die Schweiz traf.
"Gott sei Dank", sagte der DFB-Geschäftsführer Sport nur mit Blick auf den späten Ausgleich, der aus seiner Sicht hochverdient und Belohnung für die Drangphase in der zweiten Halbzeit war.
Niclas Füllkrugs Jokertreffer zum 1:1 in der Nachspielzeit ebnete nicht nur den Weg ins Achtelfinale nach Dortmund, sondern verhinderte auch größere öffentliche Debatten über die Qualität der Nationalelf.
"In den ersten beiden Spielen schien es, als sei die deutsche Mannschaft eine perfekt geölte Maschine, doch im entscheidenden Spiel, in dem es darum ging, ob sie wirklich leistungsfähig ist, ließ sie Zweifel aufkommen", kommentierte "El Mundo Deportivo" aus Barcelona allerdings.
Ein kritischer Tenor, der sich auch in anderen internationalen Medien wiederfand.
Für Bundestrainer Julian Nagelsmann bleibt in jedem Fall bis zum Achtelfinale am kommenden Samstag in Dortmund noch einige Arbeit, wenn man noch möglichst lange bei der Heim-EM dabei sein will.
Das Wichtigste in Kürze
Welche Erkenntnisse brachte das letzte Vorrundenspiel? ran fasst sie zusammen.
1. So hat Füllkrug eine Chance in der Startelf verdient
Erst mit der Hereinnahme Füllkrugs nach 76 Minuten änderte sich das deutsche Spiel, denn endlich machten auch hohe Flanken Sinn, die zuvor fast nie einen Abnehmer gefunden hatten.
Und der "echte" Neuner lieferte mit seinem späten Ausgleichstreffer per Kopf, mit dem er zum besten deutschen Joker bei EM- und WM-Turnieren aufstieg (vier Tore nach Einwechslungen).
Damit hat Füllkrug in nur 19 Länderspielen 13-mal getroffen, eine bessere Quote in der DFB-Historie haben nur die beiden Legenden Gerd Müller und Max Morlock.
Mehr als genug Argumente für einen Startelf-Einsatz des BVB-Stürmers, zumal das Achtelfinale in "seinem" Stadion in Dortmund stattfindet.
Doch Füllkrug stellt auch weiterhin keine Ansprüche. Und auch der Bundestrainer wollte sich nicht festlegen.
"Niclas hat die Chance auf die Startelf, die hat aber Kai Havertz genauso. Auch Kai hatte drei gute Chancen. Er hat ein gutes Spiel gemacht", meinte Julian Nagelsmann, und ergänzte mit Blick auf Füllkrug:
"Er liefert Argumente für beide Sachen: Als Joker weiter zu fungieren, weil er es super macht oder eben auch mal von Beginn an. Das ist Freud und Leid für ihn zugleich, dass er die Rolle gut erfüllt. Das war ein tolles Tor, das war nicht ganz so einfach. Er hat jetzt eine Woche Zeit, Gas zu geben. Wie alle anderen auch."
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2. Die Bank ist Deutschlands großes Pfund - nur Sane schwächelt
Dreimal hat Nagelsmann dieselbe Anfangsformation spielen lassen, doch niemand der Ersatzleute hat sich bislang darüber beschwert. Im Gegenteil, die meisten freuen sich laut eigener Aussage eher, überhaupt bei der Heim-EM dabei zu sein.
Doch die Gefahr, dass diese Zufriedenheit und Ruhe am Ende kontraproduktiv sein könnte, weil sie dem Konkurrenzkampf schadet, erwies sich gegen die Schweiz als falsch.
Vielmehr brachten die Einwechselspieler erneut entscheidende Impulse, um den Druck nach vorne in der Schlussphase so hoch werden zu lassen, dass das 1:1 fast zwangsläufig fiel.
"Die Spieler von der Bank können die Spiele entscheiden", wusste Nagelsmann. "Alle, die reinkamen, gehen mit der Situation sehr gut um. Es herrscht schon ein besonderer Geist. Den müssen wir uns bewahren, das kann viel auslösen."
Allerdings sollte der Bundestrainer darüber nachdenken, ob Leroy Sane tatsächlich weiter erster Joker sein sollte. Der lange verletzte Bayern-Star kommt einfach nicht in Tritt und hat bei allen drei Einwechslungen bei der EM bislang enttäuscht.
3. Nagelsmann sollte wieder mutiger werden
Es war die richtige Entscheidung des Bundestrainers, sich im März auf eine Stammformation festzulegen und dieser auch in der Vorrunde das Vertrauen zu schenken.
Viele langjährige Beobachter Nagelsmanns waren von diesem eher konservativen Ansatz überrascht, galt er doch bisher als Coach, der schnell reagiert und viel ausprobiert.
Bei der EM war davon kaum etwas zu sehen, auch die Einwechslungen schienen programmiert (Sane zuerst, dann Füllkrug) und kamen gegen die Schweiz sehr spät.
Es würde sicher nicht schaden, wenn das Trainerteam wieder etwas mehr ins Risiko gehen und sinnvolle Änderungen in der Anfangself ernsthaft diskutieren würde.
Raum könnte Mittelstädt ersetzen
So hätte David Raum angesichts seiner offensiven Stärke bei Flanken sicher eine Chance gegenüber dem am Sonntag schwachen Maximilian Mittelstädt verdient, von Füllkrug ganz zu schweigen.
"Ich habe zu Fülle schon beim Aufwärmen gesagt: Wenn wir heute beide reinkommen, weißt du Bescheid, wenn ich den Ball kriege", erzählte Vorlagengeber Raum hinterher.
"Zweimal wurde die Flanke geblockt, die dritte kam an - und Fülle macht den überragend rein."
Zudem gäbe es gute Argumente, früher mit Einwechslungen von schnellen Außenstürmern wie Chris Führich zu reagieren, wenn das Offensivspiel hakt und etwa Florian Wirtz nicht zur Geltung kommt.
Stattdessen fand die deutsche Elf gegen die defensiv stabilen und aggressiven Schweizer mit ihrem Kurzpassspiel auf engem Raum kein Durchkommen, da ein Plan B, z.B. mit hohen Bällen, lange fehlte.
"Deutschland bedankt sich bei Füllkrug. Allerdings zeigte Deutschland eine gewisse Zerbrechlichkeit und Unfähigkeit, Chancen gegen tief verteidigende Gegner zu erspielen", analysierte die "Gazzetta dello Sport" daher treffend.
4. Tahs Aussetzer ist Schlotterbecks Chance
In der Innenverteidigung ist Nagelsmann hingegen gezwungen zu wechseln. Jonathan Tah ist nach seiner zweiten Gelben Karte nach einem übermotivierten Einsatz gesperrt.
Es hätte aber auch sonst gute Gründe für einen Tausch gegeben, denn der Leverkusener erwischte einen schwarzen Abend und kam beim 0:1 von Ndoye zu spät.
Somit wird fast sicher Nico Schlotterbeck seine Chance bekommen und könnte sich mit einer ähnlichen Leistung wie zuletzt in der Champions League unverzichtbar machen.
Rüdiger droht ebenfalls auszufallen
Allerdings droht auch noch Abwehrchef Antonio Rüdiger auszufallen, der eine Zerrung im Oberschenkel erlitt. Für ihn steht Waldemar Anton parat, der in der kommenden Saison voraussichtlich gemeinsam mit Schlotterbeck auch die BVB-Innenverteidigung bilden wird.
Eine Rotation in der defensiven Zentrale, die eigentlich zur Unzeit kommt. Wobei auch Rüdiger gegen die Schweiz nicht komplett überzeugen konnte.
"Mich ärgert das 1:0, so wie das entstanden ist. Da fehlt mir das nötige Engagement", kritisierte Bastian Schweinsteiger in der "ARD" die fehlende Abstimmung:
"Dass du da ein bisschen wacher bist und dass man lauter spricht. Und dass Jonathan Tah in der Mitte in den Körper ein wenig mehr reingeht. Das hat mir da in der Situation gefehlt."
5. Auch Toni Kroos ist nur ein Mensch
Wie abhängig das deutsche Spiel vom Weltstar von Real Madrid ist, zeigte das Spiel in Frankfurt eindrucksvoll.
Im Spiel des sonst eigentlich immer fehlerfreien Kroos war ungewohnt häufig der Wurm drin. Der 34-Jährige spielte für seine Verhältnisse extrem viele Fehlpässe.
So hatte er auch einen Anteil am 0:1, als er Jamal Musiala mit einem schlechten Zuspiel unnötig unter Druck setzte und dieser den Ball verlor.
So wie sich die komplette Mannschaft seit dessen Rückkehr im März an Kroos orientiert und aufgerichtet hat, so sehr fiel sein Leistungsabfall ins Gewicht.
Stockt der Mittelfeldmotor, hat das gesamte DFB-Team ein Problem. Doch Kroos selbst war alles andere als unzufrieden und wertete das späte Comeback positiv.
"Wir glauben bis ans Ende an uns, das hilft der Mannschaft. Ich hatte das Gefühl, wir waren 90 Minuten auf dem Gaspedal - am Ende haben wir uns belohnt", sagte er.
"Ich bin total zufrieden mit der Mannschaft. Wir sind gewappnet fürs Achtelfinale."
6. Der Last-Minute-Gruppensieg kann einen Push wie 2006 geben
Schon unmittelbar nach Füllkrugs Ausgleichstor nach Raums Flanke in der Nachspielzeit, das wegen des Zeitpunkts und des doch noch errungenen Gruppensiegs ein gefühlter Siegtreffer war, kursierten die ersten Vergleiche mit der WM 2006.
Damals bedeutete das Last-Minute-Tor von Joker Oliver Neuville zum 1:0 gegen Polen nach Flanke des ebenfalls eingewechselten David Odonkor den Startschuss für das Sommermärchen - und das Dortmunder Stadion war mindestens ebenso laut wie die Frankfurter Arena diesmal.
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"Das war schon eine kleine Explosion", sagte Füllkrug über die Lautstärke nach dem 1:1 und meinte mit Blick auf die Parallelen zu 2006:
"Die kamen auch beide damals von der Bank und haben das eine entscheidende Ding gemacht. Das kann schon ein Knackpunkt-Moment gewesen sein."
In der Mannschaft überwog jedenfalls trotz der offensichtlichen Probleme vorne wie hinten die Überzeugung, dass der Glaube an die eigene Stärke und der dadurch erzwungene späte Ausgleich einen entscheidenden Push für den weiteren Turnierverlauf geben kann - gerade im Schulterschluss mit den euphorisierten Anhängern.
Gündogan: "Das kann viel freisetzen"
"Das kann viel freisetzen, alle gemeinsam mit den Fans. Wir lagen unglücklich zurück, wollten dann für den Gruppensieg noch unbedingt den Ausgleich machen. Davon, das geschafft zu haben, können wir auch in den nächsten Spielen noch profitieren", zeigte sich Kapitän Ilkay Gündogan überzeugt:
"Klar hätten wir uns gewünscht, 3:0 zu gewinnen. Aber ich glaube, dass man solche Spiele auch braucht. Das kann noch einmal Kräfte bringen. Das hat der Moral sehr, sehr gutgetan."
Zustimmung bekam er von seinen Vorgängern. "Das ist 100 Prozent ein psychologisch wichtiger Moment. Dass du das Spiel drehst mit Leuten, die du reinbringst", meinte der ehemalige DFB-Spielführer Michael Ballack bei "MagentaTV".
Und Schweinsteiger ergänzte: "Du gehst mit einem guten Gefühl raus. Dieses Tor hat schon viel verändert."