EM 2024
DFB-Team - Kai Havertz: "Die EM kann etwas Einmaliges werden – wenn…"
- Aktualisiert: 06.06.2024
- 14:32 Uhr
- Martin Volkmar
Im Interview mit ran spricht DFB-Star Kai Havertz über seine Saison bei Arsenal, seine Rolle im Nationalteam, die Aussichten bei der EM und die Bedeutung von Toni Kroos und Manuel Neuer.
Vom DFB-Team berichtet Martin Volkmar
Kai Havertz hat eine Achterbahn-Saison hinter sich.
Nach drei Jahren beim FC Chelsea, den er 2021 zum Champions-League-Titel schoss, wechselte der 45-malige Nationalspieler vergangenen Sommer für rund 75 Millionen Euro ausgerechnet zum Londoner Stadtrivalen FC Arsenal.
Nach durchwachsenem Start musste der 24-Jährige teils heftige Kritik über sich ergehen lassen, ehe er den Turnaround schaffte und bei den Gunners unumstrittene Stammkraft in der Sturmspitze wurde und seinen Anteil an der guten Spielzeit des Vize-Meisters hatte.
Auch in der DFB-Auswahl hat Havertz auf der 9 aktuell die Nase vorn und blickt nun voller Vorfreude und Zuversicht auf die Heim-EM, wie er im Gespräch mit ran im Mannschaftsquartier in Herzogenaurach erzählte.
Das Wichtigste in Kürze
"Es entscheiden oft Kleinigkeiten, gerade bei einer EM"
ran: Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem Spiel gegen die Ukraine gewonnen?
Kai Havertz: Viele Positive auf jeden Fall. Ich glaube, wir haben generell ein gutes Spiel gemacht und auch dominiert, nur im Endeffekt keine Tore gemacht. Dass ist natürlich das, was zählt und das nehmen wir uns jetzt für das nächste Spiel gegen Griechenland vor.
ran: Ist das auch aus Ihrer Sicht die wichtigste Erkenntnis gewesen, dass die Durchschlagskraft noch verbessert werden muss?
Havertz: Es stimmt, dass wir kein Tor geschossen haben. Aber wir hatten 27 Torschüsse. Da ist es nach dem Spiel immer einfach zu sagen, die Abschlüsse wären nicht gut gewesen. Aber man muss erstmal zu diesen Chancen kommen. Es war unser erstes Spiel nach mehr als zwei Monaten. Jetzt müssen wir in der Gruppe noch ein bisschen am Feinschliff arbeiten, um dann gegen die Griechen auch zu treffen.
ran: Die Ukraine hat anders als im März Frankreich und die Niederlande sehr tief gestanden. Wahrscheinlich werden die Gegner in der Gruppenphase mit Schottland, Ungarn und der Schweiz ähnlich agieren. Worauf kommt es da an, wenn man so einen Riegel knacken muss?
Havertz: Geduld natürlich. Und dieser Ehrgeiz, unbedingt das Tor schießen zu wollen. Je früher, desto besser. Ich glaube, wenn wir in der ersten Halbzeit gegen die Ukraine das 1:0 machen, dann öffnet sich das Spiel und die Ukrainer stehen nicht mehr so tief. Deswegen entscheiden oft Kleinigkeiten, gerade bei einer EM.
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Position im Sturm gefunden? "Ja, auf jeden Fall"
ran: Sie kennen den Auftaktgegner Schottland als Profi in der Premier League wahrscheinlich besser als viele andere. Worauf muss man sich da einstellen?
Havertz: Auf ein hartes Spiel. Die Schotten sind eine Mannschaft, die viel über ihre Zweikämpfe kommen. Und natürlich auch individuelle Klasse haben, gerade defensiv sind sie extrem gut besetzt. Deswegen wird es eine schwere Aufgabe für uns und wir müssen uns einfach wehren, um erfolgreich zu sein.
ran: Trotz der fehlenden Tore hat die Offensive mit Ihnen, Wirtz, Musiala und Gündogan enormes Potenzial, oder?
Havertz: Auf jeden Fall. Als Stürmer freut man sich generell immer, solche Spieler hinter sich zu haben, die Spiele entscheiden und einen perfekt in Szene setzen können. Deswegen macht mir das natürlich viel Spaß mit den Jungs.
ran: Haben Sie Ihre Position jetzt gefunden, als einzige Spitze sowohl in der Nationalmannschaft als auch bei Arsenal?
Havertz: Ja, auf jeden Fall. Ich weiß, dass ich in meiner Jugend und auch in meinen ersten Jahren als Profi nicht so oft auf der Position gespielt habe, aber ich fühle mich da extrem wohl und habe meine Freiheiten, das gefällt mir sehr gut.
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Arsenal-Start "für mich persönlich sehr, sehr schwer"
ran: Sie haben eine sehr gute Saison hinter sich, nachdem es ziemlich holprig begann. Es gab nach Ihrem Wechsel große Skepsis, dann haben Sie doch alle überzeugt. Was ziehen Sie daraus?
Havertz: Dass nach jedem Regenschauer auch wieder die Sonne scheint.
ran: Wie stark war der Schauer?
Havertz: Laut den Medien war das Gewitter mit Blitz und allem. Und es hat sich teilweise auch so angefühlt. Wobei Leute von außen die Leistung manchmal schlechter bewerten, als sie im Endeffekt ist. Aber klar, es war für mich am Anfang nicht einfach. Ich kam von Chelsea, einem der größten Rivalen von Arsenal, für eine hohe Ablösesumme in einen Verein, der in der letzten Saison eine überragende Saison hatte. Sich da neu einzufügen, war für mich persönlich sehr, sehr schwer.
ran: Ab wann ging es aufwärts?
Havertz: Als ich ein bisschen die Leute kennengelernt und mich an das ganze System gewöhnt hatte, ist es mir immer leichter gefallen. Außerdem war für mich immer klar, dass eben irgendwann auch wieder die Sonne scheinen wird und das ist ja auch eingetreten. Ich habe mehr Selbstvertrauen bekommen und auch Spiele entschieden. Und das tut natürlich immer gut. Deswegen: Ich liebe es bei Arsenal und fühle mich dort pudelwohl.
ran: Aktuell sind sie auch bei Julian Nagelsmann gesetzt. Hat er mit Ihnen über Ihre Rolle gesprochen und gesagt: "Du bist meine Nummer 9 und die anderen sind die Herausforderer"? Oder hat er gesagt, dass noch alles offen ist?
Havertz: Wir hatten das Gespräch vor mehr als zwei Monaten. Ich glaube, da kann ein Trainer nicht sagen: Du spielst auf jeden Fall jedes Spiel. Das wäre auch falsch, weil es ja hätte sein können, dass mir danach gar nichts mehr gelingt. Aber natürlich hat mir der Trainer ein gewisses Selbstvertrauen gegeben. Ich habe jetzt die letzten drei Länderspiele auf der 9 angefangen und möchte ihm dieses Vertrauen beim Turnier zurückzahlen.
Kai Havertz: Flexibilität als "Segen und Fluch"
ran: Sehen Sie auch Ihre Zukunft im Sturm oder würden Sie lieber woanders spielen, wenn Sie es sich aussuchen könnten?
Havertz: Also ich werde mich nicht beschweren, wenn ich mal wieder auf der 8 oder auf der 10 spiele. Ich bin ein Spielertyp, der offensiv fast alle Positionen spielen kann. Aber das ist ja bei Thomas Müller nicht anders, der ist auch alles - Nummer 9, Nummer 10, oft auch Rechtsaußen bei Bayern. Mir macht es Spaß, die Freiheit zu haben, auf dem Platz jeden Raum irgendwie bespielen zu können. Das ist natürlich auf der einen Seite immer ein Segen, auf der anderen Seite kann das natürlich auch ein Fluch sein, weil man halt nicht immer diese eine Position hat. Aber hier bei der Nationalmannschaft sehe ich mich ganz klar als Neuner.
ran: Müssten Sie da nicht egoistischer sein, damit Sie trotz Ihrer Flexibilität nicht hin- und hergeschoben werden wie etwa gegen die Türkei, als sie plötzlich Linksverteidiger waren?
Havertz: Ich glaube, das kann ich nicht. Ich bin jemand, der immer sein Ego hintenanstellt und versucht, der Mannschaft zu helfen. Deswegen war es auch keine Thematik für mich, diese Linksverteidiger-Rolle damals anzunehmen. Sondern ich habe gesagt: Klar, wenn der Trainer das so probieren will, dann mache ich das und dann habe ich auch kein Problem damit. So ist einfach mein Charakter und so hatte ich immer Erfolg in meiner Karriere. Ich war immer jemand, der oft seine Position geändert hat. Und ich glaube, das ist auch eine meiner Stärken, um ein bisschen unberechenbarer zu sein.
ran: Wie ist generell Ihr Eindruck nach den ersten eineinhalb Wochen im Trainingslager, auch im Vergleich zu den letzten beiden Turnieren, bei denen Sie dabei waren?
Havertz: Ich habe auf jeden Fall ein extrem positives Gefühl. Ob das jetzt auf dem Platz oder neben dem Platz ist. Jeder versteht sich mit dem anderen. Ich glaube, wir haben eine gute Mischung verschiedener Mentalitäten. Es gibt einige erfahrene Spieler wie Manuel Neuer, Thomas Müller oder Toni Kroos. Und es gibt viele jüngere Spieler, die neu dazugekommen sind. Von meinem Gefühl her kann die EM etwas Einmaliges werden. Wenn wir das dann auch auf dem Platz umsetzen können.
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Manuel Neuer "der beste Torwart aller Zeiten"
ran: Aber das extrem positive Gefühl ist erst seit März da, oder?
Havertz: Ja klar, wir hatten jetzt nicht allzu viel Freude in den letzten ein, zwei Jahren. Die waren nicht positiv für uns, aber im Endeffekt kommt es auf die letzten Monate an. Und aus den Spielen gegen Frankreich und die Niederlande konnten wir viel Gutes ziehen. Es hilft sehr, wenn man in so ein großes Turnier mit einem gewissen Vertrauen gehen kann.
ran: In Toni Kroos und Manuel Neuer sind jetzt zwei ganz erfahrene Spieler zurückgekehrt. Was bedeutet das für das Gesamtgefüge?
Havertz: Extrem viel. Ich habe es schon gemerkt in den Länderspielen im März: Wenn Du Toni in Deinem Team hast, dann fühlt man sich einfach sicherer auf dem Platz. Er ist immer da, übernimmt immer Verantwortung, lenkt das Spiel für uns und bestimmt den Rhythmus.
ran: Und Manuel Neuer?
Havertz: Manu genauso. Für mich ist er der beste Torwart, der wahrscheinlich jemals gespielt hat. Und wenn du dann weißt, dass er hinter dem Tor steht, dann gibt es dir noch ein besseres Gefühl.
ran: Zuletzt hat er im Verein ein bisschen gewackelt, auch gegen die Ukraine fast ein Gegentor verschuldet. Wirkt sich das ein aus auf die Mannschaft?
Havertz: Nein, auf mich zumindest nicht. Ich glaube, auch auf keinen anderen, weil bei 500 Aktionen passiert ihm vielleicht einmal so etwas, aber in den anderen 499 Aktionen rettet er uns dann und hilft uns, die Spiele zu gewinnen. Manu ist jemand, der hat alles erreicht in seinem Leben. Für mich ist er der beste Torwart aller Zeiten und ich glaube, wir können uns alle glücklich schätzen, dass wir ihn bei uns im Tor haben.
"Auf jeden Fall ein gutes Gefühl" für die EM 2024
ran: Kann man sagen, dass auch durch die vielen neuen Spieler ein neuer Spirit entstanden ist?
Havertz: Ich glaube, wir hatten in jedem Turnier bisher das Gefühl, dass wir was reißen können und keiner macht ja extra, dass irgendwas nicht klappt. Wir wollen als Profis alle den größtmöglichen Erfolg haben und natürlich auch unser Land gut darstellen und den Fans Freude bereiten. Das ist jetzt in den letzten Jahren leider nicht gelungen. Diesmal werden wir auf jeden Fall bereit sein.
ran: Ist die Mannschaft aus Ihrer Sicht besser als bei den letzten Turnieren, obwohl ja auch einige früher gesetzte Größen aussortiert wurden?
Havertz: Von den Namen her wahrscheinlich nicht, aber wahrscheinlich von der Leistung her. Und das ist aus meiner Sicht wichtiger als irgendein Name, sondern es geht nur um die Frage: Hat man wirklich seine Leistung abgerufen oder nicht? Und da kann jeder hier bei uns in der Nationalmannschaft behaupten, dass er eine gute Saison hatte.
ran: Also haben Sie ein gutes Gefühl für die EM oder halten Sie sich mit einer Prognose lieber noch zurück?
Havertz: Nein, ich habe auf jeden Fall ein gutes Gefühl. Auch im Vergleich zu den anderen Turnieren.