Kommentar
EM 2024 in Deutschland: Warum die Bilanz zwiespältig ausfällt
- Aktualisiert: 16.07.2024
- 10:13 Uhr
- Martin Volkmar
Die EM in Deutschland hat viele tolle Erlebnisse gebracht, aber in einigen Bereichen verlief nicht alles so optimal, wie es manche nun gerne darstellen wollen. Ein Kommentar.
Von Martin Volkmar
Was bleibt von der zweiten Europameisterschaft in Deutschland nach 1988, die für die nächsten Jahrzehnte vermutlich das letzte Fußball-Großturnier sein wird, zumindest bei den Männern?
Unterm Strich fällt die Bilanz in fast allen Bereichen zwiespältig aus.
Denn überall fehlte ein bisschen dafür, dass man vollauf zufrieden sein konnte.
Stimmung: Zwischen Schotten und Spatzenhirnen
Die Stimmung war in den meisten Fällen toll, dank herausragender Fangruppen der teilnehmenden Länder. Allen voran bleiben die Niederländer und die Schotten in Erinnerung, aber auch kleinere Nationen sorgten für ordentlich Stimmung.
Auch Deutschland präsentierte sich als guter Gastgeber, so dass das Turnier ähnlich wie die WM 2006 viel Werbung für unser Land gemacht hat.
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Wie viele Menschen hierzulande aber auch nach vier Wochen internationaler Begeisterung nicht von ihrem engstirnigen Nationalismus ablassen können, zeigte sich aber leider beim ersten Halbfinale.
Da wurde Marc Cucurella von tausenden deutschen "Spatzenhirnen" („Frankfurter Rundschau“) über die gesamte Spielzeit gegen Frankreich bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen.
Der Spanier musste somit als Sündenbock herhalten für den Frust über den von Schiedsrichter Anthony Taylor im Viertelfinale verweigerten Elfmeter nach Cucurellas vermeintlichem Handspiel.
Ein unwürdiges Verhalten für einen Gastgeber, dass auch Julian Nagelsmanns Appell für mehr Gemeinsinn und weniger Egoismus kurz zuvor konterkarierte.
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Organisation: Sichere Stadien mit unverschämten Preisen
Dass die zur WM 2006 gebauten Stadien noch immer hervorragend für Topevents geeignet sind, wurde eindrucksvoll bewiesen. Auch die Sicherheit der Besucher war gewährleistet, trotz einiger Schwachstellen.
Da wären zum einen die immer wiederkehrenden Flitzer zu nennen, die ohne große Probleme den Platz stürmen konnten und für ein Selfie zu ihren Idolen kamen. Ein Vorfall hätte unter Umständen einem Spieler - Spaniens Kapitän Alvaro Morata - sogar die Final-Teilnahme kosten können. Ein Ordner, der einen Flitzer einfangen wollte, rutschte weg und Morata ins Knie. Der Ausgang: Gottseidank glimpflich.
Ebenfalls glimpflich verlief ein wesentlich ernsterer Zwischenfall, denn: Der mit einer Sturmhaube vermummte Stadionkletterer während des Achtelfinals zwischen Deutschland und Dänemark hätte auch ein Terrorist sein können.
Dass man bei solchen Turnieren als Zuschauer in allen Bereichen – Ticketpreise, Essen, Trinken, Parken etc. – mit teilweise unverschämten Preisen geschröpft wird, gehört dagegen zur traurigen Realität.
Das Wichtigste in Kürze
Und auch außerhalb der Stadien hätte man manches besser machen können, etwa mehr Hinweisschilder zumindest in englischer Sprache.
Und die fehlenden Möglichkeiten zur Kartenzahlung in vielen Bereichen des täglichen Lebens sorgten bei den ausländischen Gästen zu Recht nur noch für Kopfschütteln.
Verkehr: Das größte Defizit der EM
Sicher das größte Defizit der EM. Die Jahrzehnte lange Misswirtschaft der Deutschen Bahn, die sogar "Mobilitätspartner" der EM war, wurde nun auch auf größtmöglicher Bühne zur Schau gestellt.
Zwar kamen viele Züge einigermaßen pünktlich, aber das mittlerweile für Inländer fast schon gewohnte regelmäßige Desaster mit zahlreichen Ausfällen und Verspätungen waren ein PR-GAU für das Staatsunternehmen.
Im Nahverkehr lief es nur teilweise besser, so gab es etwa chaotische Zustände rund um den Transport von und zu den Stadien in Schalke oder Köln.
Dass auf Nahe liegende Lösung wie zusätzlichen Zügen, Straßenbahnen und Bussen, mehr Personal für solch ein Großereignis oder schlicht besserer Kommunikation kein Verantwortlicher kommt, verwundert einen hierzulande gar nicht mehr – international aber umso mehr.
Und auch mit dem eigenen Wagen lief es kaum besser, weil in vielen Städten offenbar die Weitsicht fehlte, Baustellen rechtzeitig zur EM fertigzustellen.
So gab es in Stuttgart an jedem Spieltag einen Verkehrs-Infarkt, auch die Politik-, Sport- und Organisations-Prominenz kam regelmäßig zu spät und selbst die Mannschaften standen bei der Anreise im Stau.
Deutsches Abschneiden: Aufbruchstimmung und bleibende Probleme
Bundestrainer Julian Nagelsmann muss man zugutehalten, dass er es innerhalb weniger Monate geschafft hat, für Aufbruchstimmung zu sorgen und eine Mannschaft aufzubauen, die weit besser spielte als man es vor einem Jahr noch für möglich hielt.
Daher ist der knappe Viertelfinal-K.o. gegen Turnierfavorit Spanien unterm Strich ein Erfolg, weil die Identifikation mit der DFB-Auswahl wieder da ist und der Stimmungseinbruch nach dem Aus nur noch die letzte Turnierwoche betraf.
Je mehr die Experten allerdings die deutschen Leistungen objektiv analysieren, desto mehr werden auch die nach wie vor vorhandenen Probleme deutlich, allen voran die mangelnde Durchschlagskraft vor dem Tor.
Mit etwas Pech hätte das Team daher vermutlich gegen die Schweiz verloren und im Achtelfinale gegen Dänemark auch ausscheiden können.
Sportliches Niveau: Nach der Vorrunde ging es bergab
Viele Vorrundenspiele machten auch dem neutralen Zuschauer Spaß, zum Beispiel die Vorstellungen Spaniens, Deutschlands und Österreichs oder spektakuläre Spiele wie das der Türkei gegen Georgien.
Aber gerade Topteams wie England, Frankreich oder Italien enttäuschten mit ideenlosen Auftritten und spätestens ab dem Viertelfinale ging es mit dem Niveau rapide bergab.
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Hier rächte sich wie bei jedem großen Turnier der vergangenen Jahre der Raubbau an den Spielern, die irgendwann keine Höchstleistungen mehr abrufen können.
Wird das kombiniert mit reiner Ergebnis-Fußball-Philosophie wie zum Beispiel bei den Nationaltrainern von Frankreich und England, wartet man trotz hochkarätiger Namen meist vergeblich auf Spektakel.
Wetter: Kein Sommermärchen 2.0
Gerade im Vergleich zur WM 2006 muss man wohl eingestehen, dass der Klimawandel kein durchgängig gutes Wetter im Juni in Deutschland mehr garantieren kann.
Stattdessen war es vor allem: unbeständig.
Schöne Tage wechselten sich regelmäßig mit Regengüssen und Gewitter ab. Ein Sommermärchen 2.0 war es jedenfalls nicht.
Fazit:
Die EM hat Spaß gemacht und war in allen Bereichen auf einem ordentlichen Niveau.
Es war aber vieles bei weitem nicht so optimal, wie es manche nun gerne im Rückblick deuten wollen.