EM 2024 in Deutschland
EM 2024 - Jörg Stiel im Interview: "Ich glaube, dass Neuer über seinem Zenit ist"
- Aktualisiert: 22.06.2024
- 13:14 Uhr
- Christian Stüwe
Sowohl Deutschland als auch die Schweiz verfügen über mehrere Torhüter von besonderer Klasse. Im ran-Interview gibt Ex-Keeper Jörg Stiel seine Einschätzung zur Situation zwischen den Pfosten ab und schaut auf das Spiel des DFB-Teams gegen die Eidgenossen voraus (So., ab 21 Uhr im Liveticker).
Das Interview führte Christian Stüwe
Bei Borussia Mönchengladbach wurde Jörg Stiel zum Kult-Torwart, für die Schweiz stand er bei der EM 2004 im Tor. Im ran-Interview spricht Stiel über das abschließende Gruppenspiel des DFB-Teams gegen die Schweiz am Sonntagabend (ab 21 Uhr im Liveticker) und den Konkurrenzkampf im Tor bei beiden Mannschaften.
ran: Jörg Stiel, am Sonntag treffen Deutschland und die Schweiz im letzten Gruppenspiel aufeinander. Ist es ein besonderes Spiel für Sie als ehemaligen Bundesliga-Spieler?
Jörg Stiel: Es wird ein besonderes und super spannendes Spiel zwischen zwei Nachbarn. Die Rivalität kann man nicht weg reden und das ist auch gut so. Wir in der Schweiz haben einige Bundesliga-Spieler in unseren Reihen. Und Deutschland hat mit zwei Siegen seinen Anspruch auf eine wichtige Rolle bei dem Turnier untermauert. Viele Spieler haben schon miteinander oder gegeneinander gespielt, sie kennen sich. Auch von der taktischen Ausrichtung her dürfte es spannend werden. Wir sind zwar Nachbarn, aber am Sonntag wird davon nicht viel zu spüren sein.
ran: Deutschland ist schon für das Achtelfinale qualifiziert. Ist das ein Vorteil für die Schweiz?
Stiel: Was Deutschland bisher gemacht hat, war sehr gut. Das Spiel gegen Schottland war zwar richtungweisend, aber nicht sehr aussagekräftig. Das Spiel gegen die Ungarn – die sehr kompliziert zu spielen sind und sehr gute Fußballer in ihren Reihen haben – hat den Deutschen gut getan. Aber das Spiel am Sonntag ist für beide Mannschaften zu wichtig, weshalb es keine Rolle spielen wird, dass man schon für das Achtelfinale qualifiziert ist. Auch die Schweiz ist ja eigentlich schon qualifiziert und müsste schon richtig unter die Räder kommen, damit da noch etwas schief geht. Aber die Ausgangslage lässt es eigentlich nicht zu, das Spiel locker anzugehen. Dafür ist die Rivalität viel zu groß.
Das Wichtigste in Kürze
ran: Worauf wird es in dem Spiel ankommen?
Stiel: Es wird darum gehen, wie dominant Deutschland auf dem Weg sein kann, ihr Spiel zu finden und durchzubringen. Und wie gut die Schweiz dagegenhalten kann. Einzelspieler gibt es auf beiden Seiten hervorragende. Aber man hat gesehen, dass die körperliche Art, mit der die Schotten Fußball spielen, der Schweiz nicht so gelegen gekommen ist. Die Frage wird sein, wie sehr sich die Schweizer den Deutschen anpassen. Ich gehe nämlich nicht davon aus, dass sich die Deutschen den Schweizern anpassen. Ich glaube, es könnte entscheidend werden, wie körperlich das Spiel wird. Und wer da besser dagegenhalten kann.
Jörg Stiel über Manuel Neuer: "Spiel gegen Ungarn wird ihm gut getan haben"
ran: Manuel Neuer hat vor der EM sowohl im Tor des FC Bayern München wie auch in der Nationalmannschaft gepatzt. Gegen Ungarn hat er nun ein sehr starkes Spiel gemacht. Denken Sie, er ist wieder der Alte?
Stiel: Nein, das würde ich nicht sagen. So eine Verletzung, wie er sie hatte, steckst du nicht einfach so weg. Nicht in dem Alter. Zum anderen glaube ich, dass ihm ein bisschen diese Selbstverständlichkeit abhandengekommen ist. Dieses Unbezwingbare, dieses Unwiderstehliche, dieses einfach Manuel Neuer zu sein. Weil er doch den einen oder anderen Fehler gemacht hat. Er ist nach wie vor einer der besten Torhüter der Welt, da muss man nicht drüber diskutieren. Aber man hat gemerkt, dass er jetzt doch Unterstützung braucht. Und die bekommt er jetzt auch. Deshalb denke ich, dass ihm das Spiel gegen Ungarn sehr gut getan hat. Er hat zu Null gespielt und dem Team geholfen. Aber ich glaube, dass Neuer über seinen Zenit ist. Vor zehn Jahren bei der Weltmeisterschaft war das noch etwas ganz anderes, da war er im besten Alter für einen Torhüter.
ran: Marc-André ter Stegen bleibt wieder nur der Platz auf der Bank. Haben Sie Mitleid mit ihm?
Stiel: Ich habe Marc in Gladbach kennengelernt, als er 17 Jahre alt war. Er ist ein außergewöhnlich starker Torwart, dass man ihn auf die Bank setzen kann, ist ein Luxus. Vom Gesamtpaket her hätte Marc genauso gut die Nummer eins sein können. Julian Nagelsmann hat sich aber für Manuel Neuer entschieden. Ich mag in diesem Zusammenhang das Wort Politik nicht, aber es ist einfacher, Marc-André ter Stegen auf die Bank zu setzen als Manuel Neuer.
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ran: Die Situation bei der Schweiz ist ganz ähnlich, hier muss sich BVB-Torwart Gregor Kobel hinter Yann Sommer anstellen. Wie beurteilen Sie den Konkurrenzkampf im Tor?
Stiel: Gregor Kobel hat bei einem Verein wie Borussia Dortmund sehr schnell Fuß gefasst und ist zu einem absoluten Topshot geworden. Ich weiß nicht, wie repräsentativ das ist, aber ich habe kürzlich gelesen, dass er zu den wertvollsten Torhütern auf der Welt gehört. Das Gesamtpaket, von der Qualität her, die er auf den Platz bringt, ist überragend. Aber die Situation ist trotzdem anders. Yann Sommer wird im Dezember 36 Jahre alt. Kobel ist 26 Jahre alt, zwischen ihm und Sommer liegt eine Generation dazwischen. Die Frage, wie die Zukunft aussehen soll, stellt sich daher eher nach dem Turnier.
ran: Es könnte also ein Generationenwechsel anstehen?
Stiel: Dass Yann jetzt die Nummer eins ist, finde ich völlig okay. Aber Gregor will bald die Nummer eins sein, so schätze ich ihn als Typ ein. Er stellt jetzt Ansprüche, ich finde das cool. Die Zukunft heißt Gregor Kobel, das ist logisch. Er kommt jetzt erst in das beste Torwart-Alter, er wird noch stärker werden. Nach dem Turnier wird Nationaltrainer Murat Yakin eine Entscheidung treffen müssen. So wie es Köbi Kuhn damals bei mir auch gemacht hat. Dann geht es in eine andere Richtung weiter und das ist dann auch völlig okay.
Jörg Stiel über junge Torhüter in Deutschland: "Finde Freiburger Weg cool"
ran: Deutschland war schon immer für seine starken Torhüter bekannt, die Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer Torhüter-Nation entwickelt. Woran liegt das?
Stiel: Wir haben in der Schweiz eine einheitliche Ausbildung. Patrick Foletti ist dafür verantwortlich, er hat sehr gute Arbeit geleistet. Natürlich trainiert jeder von uns, der selbst mal im Tor gestanden hat, etwas anders. Aber es basiert auf der einheitlichen Ausbildung, bei der wir sehr in die Tiefe gehen. Dazu kommt, dass die Schweizer Liga eigentlich eine Ausbildungsliga ist, da kannst du junge Torhüter leichter einbauen. Justin Hammel habe ich in der U17 in Basel trainiert, mit 21 Jahren zu Grasshoppers geholt und mit 22 Jahren ist er die Nummer eins geworden. Es ist die Struktur, die tiefe Ausbildung, dann kommen die kurzen Wege dazu. Am Ende braucht es natürlich immer auch ein bisschen Glück, ob einer dann gut hält.
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ran: Wie sehen Sie die Situation der jungen Torhüter in Deutschland?
Stiel: In der Bundesliga ist die Frage, wie mutig man ist, die jungen Torhüter auch spielen zu lassen. Oder ob man einen Torhüter aus dem Ausland für teures Geld holt. Der SC Freiburg hat es mit Noah Atubolu vorgemacht. Ich finde es cool, dass sie diesen Weg mit einem jungen Torhüter gehen. Und Atubolu hat eine gute Saison gehabt in seinem ersten Jahr. Man muss den Mut haben, junge Torhüter ins Tor zu stellen. Das muss der Weg sein.
ran: Sie haben ziemlich genau vor 20 Jahren bei der EM für ein Highlight gesorgt, als Sie im Spiel gegen Kroatien einen Ball vor der Torlinie mit dem Kopf gestoppt haben. Wundert es Sie manchmal, dass immer noch über diese Szene gesprochen wird?
Stiel: Es ist schön, wenn die Leute etwas Lustiges oder Gutes mit dir in Zusammenhang bringen. Es war ja kein "Big Save", ich bin einfach falsch, etwas zu hoch gestanden und das Ding ist weggeflutscht. Das hat sich einfach gut angeschaut, finde ich. Das ist auch heute noch lustig zum Anschauen und hat einen Unterhaltungsfaktor. Dass die Szene auch nach 20 Jahren immer wieder auftaucht, ist eine schöne Geschichte. Ich habe fast 600 Spiele gebraucht, um eine Szene zu haben, für die sich die Leute an mich erinnern. Aber das Positive ist, ich habe immerhin eine (lacht).