Nationalmannschaft
Jens Nowotny exklusiv: "Bin fest davon überzeugt, dass Nagelsmann bereits eine Vision hat"
- Veröffentlicht: 15.05.2024
- 09:37 Uhr
- Andreas Reiners
Rund um die Kader-Bekanntgabe für die EM haben wir uns mit Ex-Nationalspieler Jens Nowotny über das DFB-Team, Bayer und die Bayern unterhalten.
Das Interview führte Andreas Reiners
Jens Nowotny weiß, wie ein Sommermärchen geht. Er absolvierte 2006 zwar nur ein WM-Spiel, doch die Faktoren, die ein zweites Märchen in diesem Sommer möglich machen könnten, kennt er.
Wir haben uns mit dem Ex-Nationalspieler deshalb über das Erfolgsrezept unterhalten, aber auch über den Kader, die richtige Mischung, die unglaubliche Saison seines Ex-Klubs Bayer Leverkusen und die Trainer-Absagenflut beim FC Bayern.
ran: Jens Nowotny, gefühlt ganz Deutschland ist involviert in die Kader-Bekanntgabe. Übernehmen Sie eventuell auch noch eine Nominierung?
Jens Nowotny: (lacht). Nein, ich glaube ich nicht, dass ich da noch etwas machen soll. Es ist zumindest nichts geplant.
ran: Wie finden Sie die Art der Präsentation durch den DFB?
Nowotny: Ich glaube, dass es den einen oder anderen gibt, der darüber verwundert ist. Aber die Idee, dass es aus ganz Deutschland, aus allen möglichen Ecken kommt, ist durchaus nachvollziehbar. Ich hätte es aber auch nicht schlecht gefunden, dass man den Kader wie sonst auch bekanntgibt. Ich persönlich brauche diese Spannung nicht unbedingt. Aber dazu hat jeder seine Meinung.
Das Wichtigste in Kürze
Nowotny: "Pavlovic war für mich überraschend"
ran: Was hat Sie bislang überrascht beim Kader?
Nowotny: Die Nominierung von Aleksandar Pavlovic war für mich schon überraschend. Das ist eine Personalie, die wahrscheinlich keiner groß auf dem Schirm hatte. Klar: Er hat das Champions-League-Halbfinale gespielt, aber es ist seine erste Saison, in der er sich nach und nach in den Vordergrund gespielt hat. Er ist auch vorher im Kreise der Jugend-Nationalmannschaften nicht so aufgefallen und ist auch in der Jugend des FC Bayern nicht so dominant aufgetreten.
ran: Überraschungen gehörten ja zuletzt immer zu einem deutschen Turnierkader. Glauben Sie, dass es weitere Überraschungen geben wird?
Nowotny: Ich denke, dass Pavlovic schon diese überraschende Personalie war. Ich könnte mir vorstellen, dass es eher in die andere Richtung eine geben könnte: Dass jemand nicht dabei ist, mit dem man nicht gerechnet hat.
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ran: Was glauben Sie, was Bundestrainer Julian Nagelsmann am Ende für eine Mischung finden wird?
Nowotny: Ich weiß, dass Julian Nagelsmann keiner ist, der eine Entscheidung aus der Hüfte heraus trifft. Da ist alles durchgesprochen, da wurde alles genau analysiert und für jede Personalie, die er jetzt mitnimmt oder vielleicht auch nicht, gibt es einen bestimmten oder sogar zwei bestimmte Gründe. Die Kaderzusammenstellung wird schon so ähnlich sein wie bei den letzten beiden Spielen, bei denen es dann auch erfolgreich war. Aber letztlich bin ich fest davon überzeugt, dass er bereits eine Vision hat, was von Pavlovic oder dem einen oder anderen Spieler nach der EM noch zu erwarten ist. Dass es sich nicht nur auf die EM beschränkt, sondern dass er junge Spieler für die Zukunft mit ins Boot holt.
ran: Wie viele Spieler werden wir vom Deutschen Meister sehen?
Nowotny: Drei sind es für mich mindestens mit Jonathan Tah, Robert Andrich und Florian Wirtz. Die sind auf jeden Fall dabei. Mehr aber wahrscheinlich nicht.
Wie bekommt man die Abwehr sattelfest?
ran: Jonathan Tah gehört zur Abwehr, die in der Vergangenheit auch eine Schwachstelle war. Wie bekommt man das abgestellt?
Nowotny: Die Herausforderung ist, dass diese Qualität, die Jonathan in Leverkusen gezeigt hat, in der Nationalmannschaft noch auf sich warten lässt. Das war bei mir auch eine Zeit lang so, dass im Verein alles super lief, doch bei der Nationalmannschaft - warum auch immer - hat es nicht so gegriffen. Das könnte an der Selbstverständlichkeit liegen, die man vor allem im Verein zeigt. Diese Selbstverständlichkeit, dass man Kommandos gibt, dass man Aktionen macht, weil man selbstbewusst auftritt, in der Nationalmannschaft dann aber nicht so. Es wird eine Herausforderung sein, dass die einzelnen Spieler mit der gleichen Überzeugung, mit dem gleichen Selbstverständnis und mit dem gleichen Mut auch im DFB-Team auftreten.
ran: Wie wichtig wäre in dem Zusammenhang eine Nominierung von Mats Hummels, auch als Persönlichkeit, für die Stimmung bzw den Zusammenhalt?
Nowotny: Man muss dann immer vorsichtig sein, wenn man einen Kader zusammenstellt. Auf was legt man den Fokus? Legt man den Fokus auf die Harmonie innerhalb der Truppe? Legt man den Fokus auf individuelle Qualität oder auf seine Spielidee? Es ist das Schwierige für einen Trainer, den richtigen Mix zu finden. Und Mats Hummels hat natürlich eine unglaubliche Erfahrung und auch noch eine Qualität. Die Frage ist dann immer: Passt sein Spielstil zur Nationalmannschaft, zu der Idee, wie Julian Nagelsmann Fußball spielen möchte? Nimmt man ihn mit und sagt: 'Im Normalfall spielst du nicht, denn du bist da, um den Fokus auf das Siegen zu legen, weil du schon genug erlebt hast.' Und beraubt sich dann aber möglicher Optionen. Das ist Gretchenfrage. Er hätte auf jeden Fall die Berechtigung für eine Nominierung, allerdings genauso wie jeder andere Spieler auch, der dann nominiert wird.
ran: Sie haben das Sommermärchen 2006 erlebt. Wie kann es ein Sommermärchen 2.0 geben?
Nowotny: Erfolgreich ins Turnier zu starten ist das A und O. Das war damals unser Anstoß. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch mit den Fans. Das Turnier wurde angepfiffen, das Wetter war gut und wir haben gegen Costa Rica eine sehr herausragende Leistung gezeigt, wenn auch nicht so dominant, wie man sich das vielleicht gewünscht hätte. Aber alleine durch dieses Spiel, durch diese Euphorie, die man entfacht hat, hat sich etwas aufgebaut. Das hat gezeigt: Es funktioniert am besten mit einem Auftaktsieg. Und wenn du es dann schaffst, mit einer Einstellung, bei der die Fans sehen, dass da eine Mannschaft auf dem Platz ist, die bereit ist, sich für den Sieg zu zerreißen, die Anhänger weiter mitzunehmen, dann hast du die halbe Miete schon eingefahren.
Welche Faktoren braucht man für einen Lauf?
ran: Was für Faktoren sind es noch, die zu so einem Lauf beitragen?
Nowotny: Letztendlich ist ein Turnier nichts anderes als ein normales Fußballspiel. Wie startest du in das Spiel? Hast du den ersten Pass? Spielst du den mit Überzeugung? Gewinnst du den ersten Zweikampf? Sind die Fans da? Oder kommt nach dem dritten, vierten Pass ein Rückpass, der vielleicht nicht hundertprozentig gespielt wird und der Gegner hat eine Chance? Gewinnst du das erste Spiel oder nicht? Alles, was du machen kannst, um das Heft des Handelns in der Hand zu haben, sind wichtige Faktoren.
ran: Wie erleben Sie die Stimmung rund um das DFB-Team aktuell? Lange war es schwierig, inzwischen ist Euphorie zu spüren…
Nowotny: Das ist der Erfolg, den ich angesprochen hatte. Du hast jetzt zwei Spiele gegen Top-Gegner erfolgreich bestritten. Das war ein ganz anderes Auftreten als zuvor und plötzlich hat sich die Stimmung gedreht. Jeder ist in dieser Euphorie drin und jeder traut dieser Mannschaft durchaus zu, um den Titel mitzuspielen. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass es funktionieren kann, wenn sie es schaffen, die Fans sofort vom ersten Tag an mitzureißen.
ran: Und was ist dann Ihrer Meinung nach tatsächlich drin?
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Nowotny: Dass die Mannschaft um den Titel mitspielt. Wir brauchen uns nicht darüber zu unterhalten, dass auf dem Platz Weltmeister, Champions-League-Sieger und hoffentlich auch Europa-League-Sieger stehen. Da stehen Spieler auf dem Platz, die wissen, wie es geht. Den Erfolg wollen sie fortschreiben und warum auch nicht? Wir haben es damals nicht geschafft, nach der WM 2002 waren wir Leverkusener viermal Vize. Doch warum soll die Leverkusener in diesem Jahr nicht vier Titel holen? Das wäre das i-Tüpfelchen auf dieser Leverkusener Saison.
ran: Bayer Leverkusen hat in dieser Saison schon Geschichte geschrieben. Haben Sie im Ansatz mit so einer Saison gerechnet?
Nowotny: Nein, mit so einer Saison definitiv nicht. Ich habe immer gesagt: Wenn sie nach der Winterpause nach drei Spielen noch einen Vorsprung haben und sie sich in einen Lauf reinspielen, dann kann es was werden. Aber dass es so dominant werden würde, hätte ich nicht gedacht.
ran: Wie erklären Sie sich diese Konstanz über eine Saison und auch die Mentalität, mit den vielen Toren in der Schlussphase?
Nowotny: Ich glaube, dass sich da etwas verselbstständigt hat. Sie haben es über die Saison hinweg geschafft, nur auf sich zu gucken und auf keinen anderen schauen zu müssen. Denn selbst als man mal unentschieden gespielt hat, hat Bayern auch nicht gepunktet. Die Bayern haben Federn gelassen im Laufe der Saison und somit hatte man diesen Druck nicht. Und dann haben sich Selbstvertrauen und Selbstverständnis weiterentwickelt. Das Spiel gegen Rom ist ein gutes Beispiel: Die Menschen haben daran geglaubt, dass Leverkusen das noch dreht. Nicht nur an die Chance. Sie haben wirklich daran geglaubt und gesagt: 'Das schaffen die noch.' Das ist in den Köpfen drin, und zwar auch beim Gegner.
Bayer Leverkusen: Und jetzt das Triple?
ran: Zwei Titel sind jetzt noch drin. Womit rechnen Sie? Im Grunde ist ja schon das Gefühl da, dass sie jetzt auch das Triple holen, oder?
Nowotny: Ja, das Gefühl habe ich auch. Atalanta Bergamo wird sich anders präsentieren als Rom im Hinspiel, sie werden kompakter stehen, sie werden mit Angriffsaktionen punktuell Nadelstiche setzen wollen. Aber trotzdem geht Leverkusen als Favorit in das Spiel. Ich bin davon überzeugt, dass sie die zwei Titel noch holen werden. Und mit diesem Push und dann drei Leverkusenern als Achse auf dem Platz ist auch der vierte Titel mit dem DFB-Team möglich.
ran: Bayer wurde früher nachgesagt, man sei eine Wohlfühloase, aber für den Titelgewinn fehlt etwas. Es wirkt, als habe Xabi Alonso dem Verein eine neue Identität verpasst, einen besonderen Hunger – oder täuscht das?
Nowotny: Er hat alles gewonnen, was man gewinnen kann als Spieler, und das, was er erzählt, das nimmt man ihm ab, denn er kann ja immer noch kicken. Du kannst dir nicht nur YouTube-Videos von ihm anschauen, er kann im Training den Ball haargenau schlagen. Er weiß, wie es sich anfühlt, auf dem Platz der Chef zu sein. Wenn er auf dem Platz stand, war er der Chef, jetzt ist er es wieder, und er hat es in sich drin. Und ich glaube, das hat er weitergegeben. Die Spieler hat er mitgenommen und die nehmen ihm alles ab, weil er es glaubwürdig herüberbringt, weil er bewiesen hat und immer noch beweisen kann, dass er kicken kann.
ran: Gab es früher im Verein etwas, das gehemmt hat, um Titel zu holen?
Nowotny: Wir waren damals nicht so selbstbewusst oder frech genug, um zu sagen: 'Was wollt ihr eigentlich? Wir stehen zu Recht da oben und wir gewinnen das nächste Spiel und die Schale nehmen wir nachher auch mit nach Hause.' Dieses Selbstverständnis war nicht so ausgeprägt. Bei uns hat man immer eher gesagt: 'Ach nee, lass' keine Story machen, es könnte ja noch was schiefgehen.‘ Dieser Mut, dieses letzte Quäntchen Überzeugung, sich mal hinzustellen und zu sagen, dass wir Deutscher Meister werden - auch intern - hat ein bisschen gefehlt.
ran: Wie schwierig wird es denn jetzt, das Niveau zu halten bzw zu bestätigen, und was ist dafür nötig?
Nowotny: Den Hunger bewahren, den Fokus behalten. Der Erfolg hat Begehrlichkeiten geweckt. Da sprechen wir möglicherweise bei dem einen oder anderen von einer Chance, für viel Geld ins Ausland zu gehen. Möglicherweise muss man sich von Spielern trennen, bei denen man nicht mehr die Überzeugung hat, dass sie noch einmal so eine Saison performen können. Da liegt es am Management, zusammen mit den Trainern die Charaktere herauszufiltern, mit denen man in der kommenden Saison wieder ganz oben stehen kann.
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ran: In der Bundesliga hängt der Erfolg auch ein Stück weit daran, was die Bayern machen. Was glauben Sie, wie heftig deren Reaktion ausfallen wird in Sachen Umbruch?
Nowotny: Ich denke, dass da noch einiges passieren wird, unabhängig davon, welcher Trainer kommen wird. Thomas Tuchel hat den einen oder anderen Spieler geholt, der nicht ganz so performt hat. Viele spielen noch die Europameisterschaft, andere haben sich in dem Jahr in München nicht wohlgefühlt, nicht wertgeschätzt gefühlt. Da wird sich noch einiges verändern, davon bin ich fest überzeugt. Das muss auch so sein, denn die aktuelle Mannschaft ist eine gute Mannschaft, aber mehr als in dieser Saison ist mit ihr im Moment einfach nicht drin. Wenn sie punktuell den einen oder anderen Spieler abgeben, andere dazu holen und andere Spieler wiederum wieder auf ihr normales Leistungslevel kommen, sind sie im Vergleich mit Leverkusen in der jetzigen Form aber konkurrenzfähig.
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ran: Und die Frage der Fragen: Wer wird Trainer? Oder gibt es gar keinen neuen und Thomas Tuchel bleibt?
Nowotny: Uli Hoeneß hatte Thomas Tuchel kritisiert, er sei kein Entwicklungstrainer. Das ist er aber. Doch in einer Phase, in der man performen muss und es warum auch immer nicht so läuft, kannst du kaum Spieler entwickeln. Du bringst sie vielleicht von der Mentalität her weiter, aber fußballerisch ist es ganz schwierig, etwas zu entwickeln. Wenn sie ihm das Vertrauen geben, mit der Vorbereitung nochmal richtig durchzustarten, dann kann er auch Spieler weiterentwickeln und an das Leistungsniveau heranbringen, um Meister zu werden oder in der Champions League um den Titel zu spielen. Aber klar: Es reduziert sich auf dem Niveau inzwischen sehr stark, was mögliche Trainer angeht. Vielleicht müssen sie für einen Trainer einfach auch mal richtig Geld auf den Tisch legen.
ran: Können Sie sich die Fülle der Absagen erklären?
Nowotny: Bayern München und auch das Umfeld haben sich in diesem Jahr nicht von der besten Seite gezeigt. Da gab es widersprüchliche Aussagen, es gab die Kritik von Uli Hoeneß an Thomas Tuchel. Du musst ein gefestigter Trainer und eine Persönlichkeit sein, um so einen Verein zu trainieren. Du weißt genau: Wenn es nach drei, vier Spielen nicht neun oder zwölf Punkte sind, dann kommt das erste Mal Kritik und dann gibt es Feuer. Und das musst du aushalten können.