Europameisterschaft
EM 2024 - Deutschland vs. Ungarn: DFB-Team zeigt eine Real-Madrid-Qualität und offenbart Schwächen
- Aktualisiert: 20.06.2024
- 13:56 Uhr
- Justin Kraft
Deutschland gewinnt auch sein zweites Gruppenspiel der EM 2024 gegen Ungarn mit 2:0. Die Erkenntnisse für den weiteren Turnierverlauf.
Vom DFB-Team berichten Justin Kraft, Tobias Hlusiak, Martin Volkmar und Bent Mildner
"Ich kann nichts für deren Emotionen", sagte Antonio Rüdiger nach dem 2:0 gegen Ungarn im zweiten Gruppenspiel nüchtern:
"Ich sehe das Schritt für Schritt."
Dabei bezog sich der Innenverteidiger auf den Hinweis einer Journalistin, dass die Fans bereits "wir fahren nach Berlin" skandiert hätten: "Jeder träumt für sich."
Nachdem der große Angstgegner der letzten Jahre bezwungen wurde, lebt der Traum vom Titel wieder ein Stück mehr. Viermal in Serie hatte man Ungarn nicht besiegen können. Im fünften Anlauf ist es nun gelungen.
Das Team von Julian Nagelsmann zeigte wie schon im ersten Gruppenspiel eine gute Leistung – und schaffte es so, das Land wieder etwas mehr "anzuzünden", wie Toni Kroos es hinterher formulierte.
Das Wichtigste in Kürze
Bei aller Euphorie gibt es aber nach wie vor Dinge, an denen die Mannschaft arbeiten muss.
ran hat die Erkenntnisse des zweiten EM-Auftritts.
1. DFB-Team: Gündogan und Musiala tragen die Offensive
Viel wurde vor der EM über Jamal Musiala und Florian Wirtz geredet. Beide sind absolute Schlüsselspieler für das DFB-Team.
Bisher ist der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Offensive aber einer, der vor dem Turnier scharf kritisiert wurde: Ilkay Gündogan.
Der DFB-Kapitän blickt auf zwei hervorragende Auftritte zurück, in denen er das Bindeglied zwischen Toni Kroos und den drei Zauberfüßen um ihn herum war. Vielleicht ist seine souveräne und erfahrene Spielweise auch genau das, womit viele zuvor gefremdelt haben.
Während Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz für besondere Momente sorgen, weil sie oft ins Risiko gehen, ist Gündogan jemand, der häufig die scheinbar einfachen Dinge macht.
Highlights sammelt er dabei selten, doch er sorgt für Stabilität in der Offensive und dafür, dass die jungen Spieler um ihn herum Halt bekommen.
Vor allem sein Zusammenspiel mit Musiala ragt heraus. Gegen Ungarn bediente der Bayern-Star seinen Kapitän, der dann im Nachsetzen den Ball zurückeroberte und wiederum auf Musiala ablegte. 1:0 für Deutschland. Das 2:0 erzielte Gündogan selbst. Musiala leitete den Angriff ein.
Beide verstehen sich sehr gut auf dem Platz. Beide machen sich gegenseitig besser. "Ich wollte immer geduldig bleiben, ich wollte immer auf dem Platz meine Aufgaben erfüllen, ohne mich zu wichtig zu nehmen", sagte Gündogan in der "ARD".
Mittlerweile ist er der Leader, den das deutsche Offensivspiel benötigt. Musialas starke Performance bei der EM hat auch ganz viel mit dem Star des FC Barcelona zu tun.
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2. DFB-Team hat offensiv dennoch Luft nach oben
Sieben Tore hat man bei diesem Turnier bereits erzielt. Mehr gelangen den Deutschen bei keiner EM-Vorrunde. Und trotzdem gibt es offensiv auch noch Verbesserungspotenzial.
Da wäre unter anderem die Präzision: Das schnelle Kombinationsspiel in den Halbräumen und im Zentrum ist sehr risikoreich.
Das ist von Nagelsmann so gewollt und eingefordert. Die bisherige Amtszeit des Bundestrainers gibt ihm auch recht.
Nur ist von Spielern dieser Qualität zu erwarten, dass ihnen weniger Bälle verspringen, sie sich seltener festdribbeln und in der Entscheidungsfindung besser werden.
Ungarn wurden zu viele Kontersituationen geschenkt, in denen das deutsche Team dann etwas Glück brauchte, um kein Gegentor zu kassieren.
Die technische Qualität der Spieler führt dazu, dass Deutschlands Offensive zu den flexibelsten und am schwersten zu berechnenden im Teilnehmerfeld zählt. Zumal Nagelsmann auch von der Bank mit diversen Optionen nachlegen kann.
Doch angesichts dieser vielen verschiedenen Spielertypen könnte das Angriffsspiel noch variabler sein. Das betrifft auch das eigene Konterspiel. Wenn man gegen Ungarn mal den Spieß umdrehen und mit viel Raum umschalten konnte, wurde daraus zu wenig gemacht.
Lange fehlte den Deutschen zudem ein alternativer Plan, als es Ungarn besser gelang, die Spielfeldmitte kompakt zu halten.
Viel lief dann über die Flügel, wo Joshua Kimmich rechts häufig abbrach, um nicht die Flanke auf Spieler schlagen zu müssen, die ihre Stärken nicht im Kopfballspiel haben.
Füllkrug zückt den Handy-Videobeweis
Links machte Maximilian Mittelstädt aber genau das: Flanke um Flanke segelte von ihm in den Strafraum – insgesamt waren es neun und nur zwei kamen an.
Erst mit den Wechseln von Nagelsmann veränderte sich das Spiel im zweiten Durchgang wieder etwas mehr in Richtung Deutschland.
Niclas Füllkrug mit seiner Physis und Chris Führich mit seiner Dribbelstärke belebten das Spiel ebenso wie Leroy Sane, dem aber trotz des engagierten Auftretens wenig gelingen wollte.
3. Defensive Flügel bleiben ein Fragezeichen
Mittelstädt und Kimmich sind ein weiteres Stichwort, wenn es um mögliche Baustellen des DFB-Teams geht.
Ungarn hat die Deutschen defensiv deutlich mehr unter Druck gesetzt als Schottland in der vergangenen Woche. Sowohl Mittelstädt als auch Kimmich wurden in der einen oder anderen Situation mehr gefordert.
Beide haben bei weitem kein schlechtes Spiel gemacht. Mittelstädt gewann vier seiner sechs Zweikämpfe, Kimmich zwei von drei.
Doch die letzten Monate haben gezeigt, dass Deutschland auf den Außenbahnen verwundbar sein kann. Den Zweifel konnten die beiden bisher noch nicht ausräumen - auch weil beide Gegner noch keine ganz großen Gradmesser dahingehend waren.
Daher bleibt auch die Frage offen, ob der faktische Verzicht auf offensive Flügelspieler in der Startaufstellung - Wirtz und Musiala drängen meist nach innen und arbeiten weniger nach hinten mit - gegen stärkere Gegner zum Problem werden kann.
4. DFB-Team: Die Abwehr wackelt leicht
Auch mit Blick auf die gesamte Abwehr gibt es noch das eine oder andere Fragezeichen. Deutschlands Konterabsicherung stand nicht immer optimal.
Rüdiger und Jonathan Tah hatten verhältnismäßig viele Stresssituationen, die sie meist gut gelöst haben.
Doch wenn die Bälle in der Vorwärtsbewegung verloren wurden, stimmten die Abstände immer mal wieder nicht, wodurch Ungarn in vielversprechende Umschaltmomente kam.
Das betrifft nicht nur die Abwehrspieler, sondern gerade auch Robert Andrich im Mittelfeld, der die Lücken nicht immer so schließen konnte, wie es von ihm erwartet wird.
Im engmaschigen Positionsspiel unter Nagelsmann ist es wichtig, dass auch die absichernden Spieler nachschieben.
So wie es Tah vor dem 1:0 getan hat. Der Leverkusener verteidigte aggressiv nach vorn, brachte seinen Fuß dazwischen und so den Angriff ins Laufen, der im Tor von Musiala endete.
Auch bei langen Bällen der Ungarn sahen die Deutschen nicht immer gut aus. Hier gibt es Analysebedarf – sei es bei gegnerischen Standards wie beim Abseitstor kurz vor der Pause, beim Kopfball von Barnabas Varga im zweiten Durchgang oder kurz vor dem Ende, als Kimmich auf der Linie klärte.
5. Manuel Neuer: Die Debatte geht trotz guter Leistung weiter
Der ehemalige Welttorhüter zeigte insgesamt eine starke Leistung. Die Diskussionen um ihn werden dennoch weitergehen.
Gleich zu Beginn verhinderte er den Rückstand mit einer guten Reaktion. Auch der Freistoß, den er im ersten Durchgang parierte, war durchaus anspruchsvoll, die Fußabwehr danach sogar noch besser.
Gleichzeitig offenbart er bei hohen Bällen Probleme - und das nicht zum ersten Mal. Kurz vor Schluss ließ er einen hohen Ball fallen, weil er gerempelt worden war, den Kimmich noch von der Linie schlagen konnte.
"Ich habe den Ball festgehalten und dann kam der LKW", sagte Neuer über seinen fast fatalen Ballverlust und nahm es gelassen, dass er dort nicht so gut aussah.
Neuers Ungarn-Schreck
Eine zu emotional geführte Debatte lohnt dennoch nicht. Neuer ist insgesamt gut ins Turnier gestartet.
Die Frage, ob Marc-Andre ter Stegen, der zuvor in der Nationalmannschaft auch seine Patzer hatte, die bessere Wahl gewesen wäre, lässt sich nicht mehr beantworten.
Es gibt sehr gute Gründe für den Einsatz von Neuer. Trotz seiner überwiegend positiven Leistung gegen Ungarn wird er nicht alle Kritiker zum Schweigen bringen. Seinem Selbstvertrauen dürfte das Zu-Null-Spiel aber geholfen haben.
6. DFB-Team: Eine Qualität, mit der man Titel gewinnen kann
Allgemein ist das Selbstvertrauen im Team riesig. Auch weil man ein Selbstverständnis auf dem Platz entwickelt hat, das bei den vergangenen Turnieren fehlte.
Auch dort hatte Deutschland Chancen, um besser abzuschneiden. Auch dort war man nicht so schlecht, wie es mitunter dargestellt wurde.
Nur diesmal gelingt es dem Team, die Wellen eines Spielverlaufs entsprechend zu kontrollieren. "Wir werden hier nicht sieben Spiele von vorne weg spielen und immer führen", sagte Kroos in der "ARD": "Deshalb ist es wichtig, diese Erfahrungen zu machen."
Erfahrungen damit, schwierige Momente zu überstehen und nicht den Rhythmus und die Kontrolle über das zu verlieren, was man selbst beeinflussen kann. Deutschland glänzt bisher nicht mit fehlerfreien Leistungen oder Fußball vom anderen Stern.
Durchaus aber mit einer guten Balance im Team, einer hohen Effizienz vor dem Tor und einem Gemeinschaftsgefühl in der Defensive, mit dem man die Schwächen gut verstecken konnte.
Gerade Kroos weiß, wie wichtig es ist, in schwächeren Phasen nicht den Kopf zu verlieren. Real Madrid gelingt das besser als allen anderen Mannschaften. Auch Deutschland schickt sich an, diese Qualität zu entwickeln.
"Vor einem Jahr wäre das Spiel anders gelaufen", erklärte Kai Havertz. Auch Nagelsmann äußerte sich ähnlich.
Vermutlich ist das der größte Unterschied zu den Mannschaften der letzten Jahre - und das hat eben nicht nur mit Zufällen zu tun.
Es ist eine Qualität, mit der man Titel gewinnen kann. Und doch muss bis dahin noch einiges passieren.
Oder, um es mit Rüdiger zu sagen: "Schritt für Schritt."