WM-Teilnehmer 2006
EM 2024 - Jens Nowotny im Interview: "Nagelsmann hat nur Spieler mitgenommen, die etwas bewirken wollten"
- Aktualisiert: 09.07.2024
- 13:06 Uhr
- Carolin Blüchel
Der frühere Nationalspieler Jens Nowotny spricht im Interview mit ran über Julian Nagelsmanns Erfolgsrezept, die größten Überraschungen bei der EM und darüber, was der DFB-Elf zum ganz großen Wurf noch fehlt.
von Carolin Blüchel
Nach dem unglücklichen Aus der deutschen Nationalmannschaft im Viertelfinale der Heim-EM gegen Spanien waren sich viele Experten einig: Nach Jahren der Enttäuschung begeistert die DFB-Elf endlich wieder und hätte den Einzug ins Halbfinale durchaus verdient gehabt.
Der frühere Nationalspieler Jens Nowotny hat selbst das Sommermärchen 2006 miterlebt und ist vor allem vom Trainergespann um Julian Nagelsmann beeindruckt. Die strikte Linie des Bundestrainers sei das Erfolgsrezept bei der Europameisterschaft gewesen.
Bei der WM in zwei Jahren könne Deutschland trotz des Rücktritts von Mittelfeldmotor Toni Kroos um den Titel mitspielen, verriet der 50-Jährige im Interview mit ran.
ran: Herr Nowotny, die deutsche Nationalmannschaft hat bei dieser EM begeistert. Trotzdem steht unter dem Strich ein Aus im Viertelfinale, was gemessen am Anspruchsdenken hierzulande zu wenig ist. Wie lautet Ihr Fazit?
Das Wichtigste in Kürze
Jens Nowotny: Wir haben eine gute Leistung gebracht. Gerade in der Gruppenphase. Natürlich ist nicht alles hundertprozentig rund gelaufen. Aber es ist immer wieder aufgeblitzt, was wir als Nationalmannschaft wirklich können. Gegen Spanien war es brutal ärgerlich, der ein oder andere würde sagen: unverdient. Aber wir sind mit erhobenem Haupt ausgeschieden. Wir haben gezeigt, dass wir auf Augenhöhe mithalten können.
ran: Was unterscheidet das DFB-Team noch von Spanien oder auch von den anderen Halbfinalisten wie Frankreich, England oder die Niederlande, die sportlich eigentlich nicht überzeugt haben?
Nowotny: Letztlich geht’s es auf diesem Niveau um Kleinigkeiten. Dieses erzwingen wollen, die letzte Präzision im Abschluss, im letzten Pass. Wir haben zwar die meisten Torchancen herausgespielt, aber im Vergleich dazu wenig Tore erzielt. Diese Präzision hatten uns die Spanier voraus, gepaart mit dem schnellen Erkennen einer Situation und der hundertprozentigen Überzeugung, dass ich die Aktion auch erfolgreich abschließen kann. Das hat den Ausschlag gegeben.
Nowotny: Der Star ist die Mannschaft
ran: Gibt es für Sie Gewinner und Verlierer in der deutschen Mannschaft, die Sie besonders hervorheben möchten?
Nowotny: Damit tue ich mich schwer. Wir haben gegen Spanien eine sehr gute Mannschaftsleistung gezeigt. Wenn die Defensive einen Zweikampf verloren hat, dann war das Mittelfeld zur Stelle. Wenn die Offensive Chancen herausgespielt hat, dann hat sich auch ein Defensivspieler mit eingeschaltet. Wir haben uns als Mannschaft sehr gut präsentiert. Julian Nagelsmann hat es tatsächlich geschafft, aus Einzelkönnern, die in der Vergangenheit hart kritisiert wurden, eine Mannschaft zu formen, die auf dem Platz zusammengearbeitet und zusammengekämpft hat.
ran: Dem Bundestrainer standen nach dem Ausscheiden die Tränen in den Augen. Auch noch am Tag danach bei der abschließenden Pressekonferenz. So emotional kennt man Nagelsmann eigentlich nicht.
Nowotny: Jeder Vereinstrainer, egal, wie viele Erfolge er hatte, kann gar nicht ermessen, was es heißt, Nationaltrainer zu sein. Bis er es selbst erlebt. Auch bei Spielern ist das so. Diese Emotionalität, sein Land zu vertreten, und dann auch noch bei einem Heim-Turnier, das vermag im Vorfeld keiner zu greifen. Bis es dann zu einem emotionalen Moment kommt: Sei es durch das Ausscheiden, wenn einem bewusst wird, jetzt ist es vorbei. Oder durch den Titelgewinn, dass man sagt: Wahnsinn, was hier abgeht.
ran: Sie sprechen aus eigener Erfahrung. Sie haben 2004 sowohl das desaströse Vorrunden-Aus bei der EM miterlebt und zwei Jahre später das Sommermärchen. Sehen Sie Parallelen zur Entwicklung der Nationalmannschaft innerhalb der vergangenen zwei Jahre im Vergleich zu damals?
Nowotny: Ich möchte gar nicht so sehr Vergleiche ziehen. Es war damals eine andere Mannschaft. Und es war eine andere Zeit, auch was die Weltwirtschaft betraf. Das kann man nicht in einen Topf werfen.
ran: Dann bleiben wir in der Gegenwart. Julian Nagelsmann ist es in sehr kurzer Zeit gelungen, aus Einzelkönnern eine eingeschworene Truppe zu formen. Was hat er in Ihren Augen richtig gemacht?
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Nagelsmanns Erfolgsrezept
Nowotny: Spieler, bei denen er der Meinung war, sie wollen etwas bewirken, die hat er mitgenommen. Alle anderen hat er gnadenlos aussortiert. Das war für mich der Wendepunkt. Ich glaube, da hat es bei dem ein oder anderen noch einmal Klick gemacht. So hart es klingt, aber wie zu einem Kind zu sagen: 'Pass auf. Du hast einmal etwas gemacht und jetzt gibt’s die Konsequenzen.' Da hat die Mannschaft gemerkt: Da ist ein Trainer, der möchte mir persönlich nichts Böses. Der möchte mich weiterbringen. Der möchte gemeinsam mit mir erfolgreich sein. Und das hat funktioniert.
ran: Als Vereinstrainer haftete Nagelsmann auch der Ruf an, Fußball zu kompliziert zu denken. Für diese Akribie hat man in der Nationalmannschaft gar nicht die Zeit. Inwiefern hat sich Nageslamann als Bundestrainer weiterentwickelt bzw. verändert?
Nowotny: Ich glaube, dass es ihm enorm geholfen hat, dass Rudi (Völler) dabei war, der wie Franz Beckenbauer für die Einfachheit des Fußballs steht. Und auch Sandro Wagner mit seiner speziellen Art, diesem Kaltschnäuzigen, diesem Frechen, diesem "Ey, gib mir mal den Ball, wir spielen jetzt einfach". Das war hilfreich. Aber es zeugt natürlich auch von einer absoluten Größe, sich helfen zu lassen. Es ist ja nicht damit getan, dass einer gute Ratschläge erteilt, sondern man muss sie ja auch annehmen. Da hat er eine enorme Entwicklung gemacht. Er hat gemerkt, es funktioniert nur so.
ran: Sie sind ja ganz begeistert…
Nowotny: Ich wünsche mir schon, dass es noch ein Weilchen mit ihm weitergeht. Mit seinem Fußballsachverstand und seinem "Lernen wollen" kann er ein ganz großer Trainer werden. Größer als er jetzt schon ist mit seinen Erfolgen.
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ran: Anders als das Trainergespann wird die Mannschaft definitiv nicht zusammenbleiben. Mit Toni Kroos bricht eine tragende Säule weg. Vielleicht folgen mit Gündogan, Müller oder Neuer noch weitere. Wie kann dieses Konstrukt Nationalmannschaft trotzdem weiter wachsen, um dann in zwei Jahren wirklich um den WM-Titel mitzuspielen?
Nowotny: Es werden ganz einfach andere in diese Rolle reinwachsen müssen. Egal ob es ein Robert Andrich ist. Oder Jonathan Tah und Antonio Rüdiger hinten drin. Vielleicht werden auch Florian Wirtz und Jamal Musiala schon so weit sind, eine Mannschaft zu führen. Natürlich wird die Mannschaft ein anderes Gesicht haben. So ist das bei einem Teilumbruch, das geht anderen auch so. Aber es kommen auch neue Spieler dazu, die man jetzt vielleicht noch gar nicht auf dem Schirm hat. Und andere, von denen man denkt, die werden über Jahre die Nationalmannschaft prägen, bleiben plötzlich in ihrer Entwicklung stehen. Aber ich mache mir überhaupt keine Sorgen, dass wir in zwei Jahren nicht um den Titel mitspielen können.
ran: Sie selbst haben die U17 im vergangenen Jahr als Co-Trainer zum WM-Titel geführt. Gibt es aus diesem Kreis Kandidaten, die in zwei Jahren schon dabei sein könnten?
Nowotny: Die Jungs von der U17, die Welt- und Europameister geworden sind, die müssen erstmal im Herrenfußball ankommen. Das ist dann schon nochmal ein Riesensprung. Allein, wenn man die Werte anguckt, wie schnell so ein Spiel ist, wie hoch die Passquote auf diesem Niveau mit hohem Tempo ist, das ist noch einmal was ganz anderes. Eine Chance haben sie alle. Aber ich möchte keinen herausheben. Auch weil das den Druck erhöhen würde.
Nowotny: Taktisches Geplänkel im Halbfinale
ran: Lassen Sie uns abschließend noch einmal auf die Europameisterschaft blicken. Abseits der deutschen Mannschaft, was hat Sie bislang am meisten beeindruckt?
Nowotny: Dass Mannschaften wie England oder Frankreich mit einem brutal starken Offensivkader so wenig Offensivqualitäten an den Tag legen und total auf die Defensive setzen, auf diese Verknappung der Räume im Zentrum. Sie warten eher auf Fehler wollen dann dieses Umschaltspiel praktizieren. Das hat mich schon ein bisschen verwundert. Und dann natürlich Mannschaften wie die Schweiz, Österreich, Georgien, die herzerfrischend gespielt haben. Oder auch die Türkei, mit ihrer Emotionalität. Das waren schon tolle Momente. Schade, dass diese Mannschaft ausgeschieden sind. Und dass es jetzt wohl eher ein taktisches Geplänkel im Halbfinale geben wird.