EUROPAMEISTERSCHAFT in DEUTSCHLAND
EM 2024: Trends, Erkenntnisse und Überraschungen – so viel Spaß macht die Euro bisher
- Veröffentlicht: 28.06.2024
- 15:44 Uhr
- Justin Kraft
Die EM 2024 ist zeitlich bei der Halbzeit angekommen. Zwei Wochen sind vorbei, zwei weitere voll mit spannenden K.-o.-Spielen warten noch auf die Fans. Zeit für ein Zwischenfazit. Das sind die Erkenntnisse der Gruppenphase.
Bei großen Turnieren gibt es den großen Trend, nach Trends zu suchen. Weltmeisterschaften und Europameisterschaften werden hierzulande auch immer mit Blick auf Entwicklungen im Fußball beobachtet.
Selten sind die Turniere selbst die Trendsetter, oft genug spiegeln sie aber das, was im Weltfußball gerade als modern gilt. Doch welche Trends lassen sich bei der Euro 2024 in Deutschland beobachten?
Und welche Erkenntnisse bietet dieses Turnier noch? ran zieht ein Zwischenfazit nach der Gruppenphase und vor den anstehenden Achtelfinals.
Deutschland ist konkurrenzfähig
Es ist wohl die wichtigste Erkenntnis für viele Fußball-Fans in Deutschland: Das DFB-Team ist konkurrenzfähig und darf sich nach einer starken Gruppenphase zumindest Hoffnungen auf den Titel machen.
Das war in den vergangenen Monaten und vor allem nach den letzten Turnierauftritten so nicht zwingend absehbar. Doch Julian Nagelsmann hat es nach eher tristen Jahren unter Joachim Löw und dann Hansi Flick geschafft, frischen Wind in die Nationalmannschaft zu bringen.
Gelungen ist ihm das vereinfacht beschrieben auf drei verschiedenen Ebenen: Der Kader wurde umgestaltet. Spieler wie Mats Hummels, Leon Goretzka und auch andere bekannte Gesichter wurden trotz kontroverser Debatten zu Hause gelassen, dafür wurden Spieler nominiert, die aus der Sicht des Bundestrainers besser ins Gefüge und ins System passen.
Das Wichtigste in Kürze
Bisher gibt es keine Argumente gegen diese Vorgehensweise. Das Team ist eine Einheit. Man könnte auch sagen: Die Mannschaft. Eine zweite Ebene ist das taktische System von Nagelsmann. Denn es verbindet verschiedene Elemente, die sich bei dieser EM als erfolgreich und modern herausstellen.
Einerseits viel Kontrolle im Zentrum mit dem Ball, andererseits dadurch auch sofortigen Zugriff im Pressing und Gegenpressing. Andererseits die Qualität, das Spiel zu beschleunigen und mit viel Direktheit nach vorn zu agieren.
Und die dritte Ebene: Durch den guten Fußball konnte man Fußball-Deutschland wieder hinter sich vereinen. Zumindest zu großen Teilen. Während der Gruppenphase kam eine leichte Euphorie auf. Es liegt an den Deutschen, diese nun auch in den entscheidenden Spielen so richtig zu entfachen.
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Große Nationen bleiben stehen
Anderen Nationen wie Frankreich, England, Belgien und Kroatien ist es nicht gelungen, mit der Zeit zu gehen. Sie alle spielen behäbigen, berechenbaren und zu mutlosen Fußball. Sie alle hatten damit, das gehört zu der Gesamtbetrachtung dazu, großen Erfolg in den vergangenen Jahren.
Frankreich wurde 2018 Weltmeister mit einer Spielweise, die immer von Kritik begleitet wurde. England holte zwar keinen Titel, kam aber immer sehr weit. Die beiden Top-Nationen mit den besten und breitesten Kadern im Teilnehmerfeld haben also durchaus Gründe dafür, dass sie zuerst auf defensive Stabilität und dann auf die individuelle Qualität im Angriff setzen.
EM 2024: Die EM-Statleader nach der Vorrunde
Sie können sich das erlauben. Im Klubfußball gibt es mit Real Madrid ein Vorbild, das zahlreiche Champions-League-Siege mit eher bieder anzusehendem Fußball gewann. Und doch bleibt das Gefühl, dass es diesmal anders ist. Dass es diesmal nicht dazu kommen wird, dass man retrospektiv über dieses Turnier sagt: Frankreich und England hatten recht. Auch bei Belgien gibt es dahingehend große Fragezeichen.
Während andere Nationen mit offensivem und erfrischendem Fußball überzeugen, sind sie irgendwo zwischen 2016 und 2022 stehen geblieben. Für das Auge des geneigten Fußballästhetikers ist das eine schöne Entwicklung.
Offensiver Fußball lohnt sich endlich wieder
Denn offensiver Fußball lohnt sich endlich wieder! Hohes Pressing, keine extrem langen Ballbesitzphasen und dementsprechend ein sehr direktes Spiel in die Spitze sind bei dieser Europameisterschaft im Trend.
Überraschend ist das nicht. Portugal 2016, Frankreich 2018, England als Finalist 2021 – das waren alles erfolgreiche Teams, die auf einen langsamen, kontrollierten und wenig spektakulären Stil gesetzt haben. Hinten stabil, vorn nur das Nötigste, ohne zu viel Risiko zu gehen.
Eines ist im Fußball aber sehr sicher: Wenn Systeme erfolgreich sind, kommt die Gegenbewegung mal mehr und mal weniger schnell daher. In diesem Fall ist die Gegenbewegung das offensive, überraschende Spiel mit deutlich mehr chaotischen Elementen wie Positionswechseln oder dem Erzwingen von zweiten Bällen am gegnerischen Strafraum.
Fußball macht so auch den Fans wieder mehr Laune.
Spektakuläre Tore
Das liegt auch an den vielen Fernschusstoren. Eine Entwicklung, die im Fußball mehr Debatten auslösen könnte, als man denkt. Denn bei Klubs, die viel Wert auf statistische Analysen legen, sind Fernschüsse in Verruf geraten. Das betrifft beispielsweise den sehr datenbasiert arbeitenden FC Liverpool oder Manchester City mit Pep Guardiola als Trainer.
Statistisch gesehen geht nur jeder 40. Fernschuss ins Tor. Manche von ihnen werden zur Ecke geklärt, die dann zu einem Treffer führen kann oder sie werden nach vorn abgewehrt, was zu guten Chancen führen kann. Insofern erzählt die Zahl nicht die ganze Wahrheit. Und doch zeigt sie sehr gut, wie unwahrscheinlich ein Torerfolg aus der Ferne ist. Innerhalb des Strafraums geht jeder sechste Schuss ins Tor – kein Wunder also, dass Analytiker da eine klare Richtung vorgeben.
Diese EM ist ein klarer Ausreißer nach oben, der sich bald wieder in Richtung Durchschnitt bewegen wird. Ein Dauerzustand ist jedenfalls nicht erwartbar. Und doch unterstreichen die vielen Versuche aus der Distanz die manchmal wilden und chaotischen Ansätze der Teams. Nicht immer muss alles durchanalysiert werden. Für Unterhaltung ist jedenfalls gesorgt.
Viele Eigentore
Der Runninggag dieser EM geht so: Torschützenkönig wird vermutlich dieser Eigentor. Sieben Eigentore sind bei diesem Turnier bereits gefallen. Bei der Europameisterschaft 2021 waren es insgesamt elf, was den aktuellen Rekord darstellt.
Auch das ist ein Beleg für die offensive Spielweise der Teams. Denn nur weil viele Bälle sehr direkt und scharf vor das gegnerische Tor gespielt werden, gibt es überhaupt die Gelegenheit, dass Abwehrspieler ins eigene Tor treffen.
Spanien im Wandel
Spanien ist ein sehr gutes Beispiel für die fußballerische Entwicklung bei diesem Turnier – und ein gutes Gegenbeispiel zu anderen großen Nationen, die sich nicht weiterentwickelt haben.
Denn auch wenn Spaniens DNA weiterhin klar erkennbar ist, so spielen sie deutlich variabler und flexibler als bei anderen Turnieren. Gegen Kroatien kamen sie nur auf 46 Prozent Ballbesitz, Italien spielten sie im nächsten Spiel mit 58 Prozent an die Wand.
Spanien kann Kontrolle, Spanien kann gegen den Ball arbeiten und Spanien kann sehr direkt übers Zentrum oder über die Flügel spielen. So komplett waren sie taktisch gesehen schon lange nicht mehr. Das macht sie zum Top-Favoriten.
Junge Talente erobern die Bühne
Toni Kroos, Cristiano Ronaldo, Luka Modric – nur drei Beispiele, die zeigen, dass einige große Spieler gerade ihre Ehrenrunde bei einer Europameisterschaft drehen. Auch wenn es nur bei Kroos aktuell offiziell ist.
Auf der anderen Seite nutzen zahlreiche junge Spieler ihre Möglichkeit, sich ins Rampenlicht zu spielen. Jamal Musiala und Florian Wirtz bei den Deutschen, Nico Williams und Lamine Yamal bei den Spaniern, Arda Güler für die Türkei und viele mehr: Es ist erfrischend zu sehen, dass eine neue Generation heranwächst.
Und gleichzeitig bedeutet das nicht, dass ältere Spieler keine Leistung bringen. Die Mischung aus beidem macht diese EM zu einem ganz besonderen Turnier.
Österreich löst Versprechen ein
In Österreich gab es nach der Auftaktniederlage gegen Frankreich (0:1) noch etwas Ernüchterung. Denn das Team von Ralf Rangnick war vor dem Turnier schon mehr als ein Geheimfavorit. Die Österreicher überzeugten in den vergangenen Monaten mit tollen Auftritten gegen einige starke Nationen.
Eingelöst haben sie das Versprechen in den Partien gegen Polen (3:1) und die Niederlande (3:2). Österreich hat das mit großem Abstand am besten organisierte Angriffspressing. Der Druck, den sie auf ihre Gegner entfachen, ist beeindruckend. Die Rangnick-Elf weiß zu begeistern und könnte noch sehr, sehr weit kommen.
Zeit für 32 Teams?
Eine Erkenntnis dieser EM ist auch, dass kleinere Nationen überraschen können. Rumänien, Georgien, Slowenien, die Slowakei – einige profitieren davon, dass Gruppendritte weiterkommen können, andere marschierten gar als Gruppensieger durch.
Gerade das System mit Gruppendritten sollte für die Zukunft aber überdacht werden. Dass vier von sechs noch ins Achtelfinale kommen, wird den Leistungen der Teams nicht gerecht. Die Sorge der UEFA: Acht Teams mehr würden den Wettbewerb verwässern, die Qualität wäre nicht gut genug.
Schon die Aufstockung auf 24 Teams wurde kritisch bewertet, weil viele Nationen dabei waren, die nur hinten drin standen. Doch die Qualität ist auch in der Breite gestiegen. Und warum nicht auch mal für Ideen öffnen, die andere Kontinentalverbände umsetzen?
Bei der Copa America spielen regelmäßig nordamerikanische Teams mit. Europa könnte Nationen aus Nordafrika einladen. Marokko beispielsweise. Mit Schweden, Norwegen, Griechenland oder Irland gibt es auch in Europa noch Länder, die diesmal nicht dabei sind, aber die Qualität sicher nicht erheblich verschlechtern würden.
Das aktuelle System wirkt jedenfalls nicht ausgereift genug. Gruppendritte sollten ausscheiden.
EM 2024: Überragende Atmosphäre
Schon vom ersten Spieltag an war klar: Diese EM wird ein ganz anderes Gefühl bei den Fußball-Fans auslösen als vorherige Turniere. Nach Russland, Corona-Pandemie und Katar fühlt sich die EM 2024 an wie das erste echte Fußballturnier seit 2016.
Fans, die gemeinsam auf den Straßen feiern, große Märsche veranstalten und für viele positive Bilder sorgen. Das bedeutet nicht, dass dieses Turnier nicht politisch aufgeladen wäre. Konflikte in Osteuropa, in der Balkanregion oder auch Themen wie der Rechtsruck im westlichen Europa finden ihre Bühne. Sei es im Stadion durch Plakate, Gesänge oder auf offener Straße – Politik und Fußball lassen sich nicht trennen und diese Seite sollte nicht verschwiegen werden.
Trotzdem ist die Atmosphäre insgesamt eine positive. Trotzdem bereitet das Turnier den Fußball-Fans eine große Freude. Die EM 2024 macht auf den Fußballplätzen und rund um die Stadien viel Spaß.