Handball-WM
Handball-WM 2025 - Johannes Bitter vor Auftakt gegen Polen: "Jetzt schon nach einem Titel zu schreien, wäre vermessen"
- Aktualisiert: 15.01.2025
- 14:04 Uhr
- Andreas Reiners
Am Mittwoch starten die deutschen Handballer in die WM. Wir haben mit Ex-Weltmeister Johannes Bitter über die Zutaten für einen Titel, die Rolle des Torhüters, die Sorgen des Bundestrainers und den deutschen Kader gesprochen.
Das Interview führte Andreas Reiners
Die Rechnung ist auf den ersten Blick simpel.
2023 wurden die deutschen Handballer WM-Fünfter, ein Jahr später bei der Heim-EM Vierter. Im Sommer des Jahres 2024 gelang dann der große Coup mit Olympia-Silber.
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Ist dann Gold bei der Handball WM 2025 (14. Januar bis 2. Februar) nicht logisch? Zumindest als Zielsetzung?
"Es gibt gute Voraussetzungen, aber jetzt schon nach einem Titel zu schreien, wäre vermessen", sagte Torhüter-Legende Johannes "Jogi" Bitter im ran-Interview. "Die Mannschaft ist entwicklungsfähig und hat enormes Potenzial. Wenn sie zusammenbleibt und von größeren Verletzungen verschont bleibt, kann sie in den nächsten Jahren Großes erreichen. 2027, bei der Heim-WM, könnten wir sicher höhere Ziele ausgeben."
Und bei diesem Turnier?
"Ein realistisches Ziel ist das Viertelfinale. Deutschland kann in der K.o.-Runde eine starke Rolle spielen", so Bitter vor dem Auftakt des DHB-Teams am Mittwoch gegen Polen (ab 20:30 Uhr im Liveticker). Doch nicht nur die Zielsetzung ist ein Thema vor dem ersten Spiel. Wir haben mit dem Ex-Weltmeister über die Zutaten für einen Titel, die Rolle des Torhüters, die Sorgen des Bundestrainers und den deutschen Kader gesprochen.
Das Wichtigste in Kürze
Johannes Bitter: Die Zutaten für einen WM-Titel
ran: Johannes Bitter, Sie wissen, wie es geht: Was braucht es für einen WM-Titel?
Johannes Bitter: Am Ende des Tages brauchst du immer auch ein bisschen Glück. Aber es gibt ein paar grundlegende Dinge, die funktionieren müssen. Du brauchst eine Mannschaft mit der nötigen Qualität, ein Trainerteam, das auf hohem Niveau arbeitet. Und eine Menge Vorbereitung, damit du einiges im Köcher hast, das dich durch ein Turnier tragen kann, sowohl taktisch als auch physisch und mental. Die deutsche Mannschaft hat vieles davon bereits. Sie haben sich gut vorbereitet, und das, was ich im Training gesehen habe, war vielversprechend. Den kleinen Rückschlag gegen Brasilien finde ich nicht einmal unbedingt negativ. Trotzdem darf man nicht vergessen - und das gehört natürlich auch dazu - dass es Konkurrenten geben muss, die schlagbar sind. Und die Dänen und Franzosen sind nicht an jedem Tag schlagbar.
ran: Ist die deutsche Mannschaft nach Silber bei Olympia reif für den großen Wurf?
Bitter: Es gibt gute Voraussetzungen, aber jetzt schon nach einem Titel zu schreien, wäre vermessen. Die Olympischen Spiele liefen besser als erwartet. Das zeigt, dass die Mannschaft grundsätzlich für Heldentaten in der Zukunft bereit ist. Aber man darf nicht vergessen, dass sie noch jung ist. Die Mannschaft ist entwicklungsfähig und hat enormes Potenzial. Wenn sie zusammenbleibt und von größeren Verletzungen verschont bleibt, kann sie in den nächsten Jahren Großes erreichen. 2027, bei der Heim-WM, könnten wir sicher höhere Ziele ausgeben. Aktuell ist es für viele Spieler das erste große Turnier, und sie können wichtige Erfahrungen sammeln. Und am besten lernt man, wenn man gemeinsam Erfolge feiert.
ran: Die Beteiligten sprechen teilweise vom Halbfinale. Was halten Sie für realistisch?
Bitter: Ich glaube, ein realistisches Ziel ist das Viertelfinale. Auf dem Weg dorthin wartet mit Dänemark ein extrem starker Gegner, aber da können wir uns theoretisch eine Niederlage erlauben. Dieser Weg ist klar und machbar. Ab dem Viertelfinale wird es spannend. Dann geht es gegen Gegner wie Schweden, Norwegen oder Spanien. Das werden 50:50-Spiele, in denen Kleinigkeiten entscheiden. Es ist wichtig, dass die Mannschaft von Spiel zu Spiel denkt und sich nicht zu früh mit möglichen Halbfinalgegnern beschäftigt. Aber Deutschland kann in der K.o.-Runde eine starke Rolle spielen.
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Johannes Bitter: "Wir befinden uns in einer Lauerstellung"
ran: Wo steht das Team im Vergleich zu den Top-Nationen?
Bitter: Ich glaube, wir befinden uns in einer Lauerstellung. In einigen Bereichen können wir durchaus mithalten. Wenn ich mir Frankreich oder Dänemark anschaue, oder auch Spanien, die sich nach einem Umbruch neu aufstellen, dann sehe ich uns knapp hinter diesen Top-Nationen. Diese Teams zeichnen sich durch ihre enorme Kaderqualität aus. Wir sind hier und da auf Augenhöhe, aber es fehlt uns noch an der Erfahrung und dem Mindset, das diese Mannschaften über viele Erfolge hinweg entwickelt haben. Während wir darüber sprechen, was wir erreichen könnten, ist für diese Nationen klar, dass sie um Gold spielen. Diese Selbstverständlichkeit erarbeitet man sich über kontinuierliche Erfolge.
ran: Was zeichnet den aktuellen Kader besonders aus?
Bitter: Wir haben eine Mannschaft, in der jeder Spieler in der Bundesliga Verantwortung übernimmt. Es gibt keine Spieler, die in ihren Vereinen in der zweiten Reihe stehen. Alle sind auf höchstem Niveau gefordert, und das ist ein großer Vorteil. Wir müssen sehen, wie die angeschlagenen Spieler zurückkommen. Einige haben ein paar Körner zu wenig im Tank. Bei Julian Köster hat man zum Beispiel gemerkt, dass er körperlich noch etwas hinterherhinkt. Dennoch glaube ich, dass wir körperlich sehr stark sein können. Vielleicht haben wir sogar einen Vorteil gegenüber anderen Nationen, weil wir schneller wieder auf Top-Niveau kommen.
ran: Das deutsche Team wird von erfahrenen Anführern wie Andi Wolff, Juri Knorr und Johannes Golla getragen, während junge Spieler wie Renars Uscins, Nils Lichtlein und Marko Grgic wichtige Rollen einnehmen. Auf wen kommt es besonders an?
Bitter: Es ist gut, dass der Fokus auf mehreren Schultern verteilt ist - sowohl sportlich als auch medial. Wir wissen, dass es Juri gar nicht so gut getan hat, als er als Shootingstar hochkam und plötzlich alle Augen auf ihn gerichtet waren. Jetzt haben wir eine Mannschaft, in der verschiedene Spieler Verantwortung übernehmen, und jeder bringt etwas Besonderes mit. Diese Vielfalt sorgt für eine natürliche Lastenverteilung. Wir haben Spieler, die in unterschiedlichen Bereichen herausragend und damit für die Medien interessant und auch Leistungsträger sind.
ran: Glauben Sie, dass es Knorr mental hilft, wenn der Druck verteilt wird, und dass er so den nächsten Schritt zum Superstar machen kann?
Bitter: Ich glaube, es befreit ihn ein Stück weit. Das kann Energie freisetzen, weil er vom Kopf her einfach mal abschalten kann, wenn der Fokus nicht nur auf ihm liegt und auch andere im Rampenlicht stehen. Juri ist, so wie ich ihn einschätze, nicht der Typ, der permanent nach dem Rampenlicht lechzt. Deshalb tut es ihm gut, wenn der Druck auf mehrere Schultern verteilt ist.
ran: Renars Uscins hat nach Olympia höhere Erwartungen zu erfüllen. Was würden Sie ihm raten, wie er mit dem gestiegenen Druck und der Aufmerksamkeit umgehen sollte?
Bitter: Das Wichtigste ist, dass er authentisch bleibt und sich nicht verstellt. Es ist entscheidend, ehrlich und geradeaus zu sein. Wenn die Aufmerksamkeit zu viel wird, sollte er selbstbewusst und klar kommunizieren: 'Ich brauche jetzt Zeit für mich.' Die Jungs sind erfahren genug, um zu wissen, wann sie sich ein bisschen zurückziehen müssen und dann klar kommunizieren, dass sie dieselbe Frage nicht zum sechsten Mal beantworten müssen. Das können sie sehr selbstbewusst darstellen, aber mit dem nötigen Respekt. Und dieser Respekt muss in beiden Richtungen da sein.
Johannes Bitter: "Ein Torhüter ist über die Jahre noch wichtiger geworden"
ran: Wolff und David Späth gelten als eines der besten Torhüter-Duos. Wie wichtig ist die Rolle des Torhüters für eine Mannschaft?
Bitter: Ein Torhüter war schon immer elementar und ist über die Jahre sogar noch wichtiger geworden. Es gibt heute viel mehr Aktionen, die direkt auf den Torhüter gerichtet sind, und er ist oft der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, etwas Großes zu erreichen. Andi ist ein Ausnahme-Sportler und Torhüter, der an vielen Tagen zu ganz besonderen Leistungen fähig ist. Er ist jemand, der große Ziele träumt und die Mannschaft intern pusht. Auch wenn er das nicht immer nach außen trägt, fordert er intern viel - und das bringt das Team voran.
ran: Nicht nur die Mannschaft hat große Ziele, denn mit den jüngsten Erfolgen ist auch die Erwartungshaltung gestiegen. Und immer wieder wird erwähnt, dass die letzte WM-Medaille 18 Jahre her ist. Kann das im Kopf ein Thema werden?
Bitter: Ich glaube nicht, dass sich die Spieler damit beschäftigen, wann es die letzte WM-Medaille gab. Klar, das wurde in den letzten Wochen medial groß aufgebauscht, und die Sehnsucht der Fans nach einem großen Erfolg ist spürbar. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Jungs dasitzen und denken, dass sie jetzt verpflichtet sind, diese Serie zu brechen und dass es ihr Turnier beschwert. Ich wünsche ihnen, dass sie mit der gestiegenen Erwartungshaltung umgehen können – und ich glaube, das tun sie auch. Das Selbstbewusstsein hat man beispielsweise in den Spielen gegen Brasilien gesehen. Auch wenn nicht alles perfekt lief und es Dinge gab, die verbessert werden müssen, hat die Mannschaft das Spiel mit einem gewissen Selbstverständnis gedreht. Das gibt Rückenwind und hilft, sich realistisch auf das Turnier einzustellen, ohne sich zu sehr von äußeren Einflüssen ablenken zu lassen. Eine selbstbewusste Mannschaft setzt sich intern ihre Ziele und beschäftigt sich nicht damit, was außen erzählt wird.
ran: Die Stimmung im Vorfeld ist unter dem Strich hervorragend. Wie konserviert man diese, vor allem, wenn es mal nicht so gut läuft?
Bitter: Ich hoffe fast, dass es schon jetzt Momente gab, in denen nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen war. Solche kleinen Dämpfer helfen oft, vor einem großen Turnier fokussiert zu bleiben. Wenn alles perfekt läuft, besteht die Gefahr, den Blick fürs Wesentliche zu verlieren. Ein Turnier ist lang, und du musst dich immer wieder neu auf die nächsten Aufgaben einstellen. Wenn du vorher mal zusammengestutzt wirst – sei es vom Trainer oder durch ein nicht so gutes Spiel –, hilft dir das, den Fokus zu schärfen. Es sorgt dafür, dass du nicht glaubst, alles ist selbstverständlich und läuft automatisch.
Johannes Bitter: Gislason-Sorgen berechtigt?
ran: Bundestrainer Alfred Gislason zeigte sich nach den Tests gegen Brasilien unzufrieden. Welche Baustellen gibt es vor dem Auftakt?
Bitter: Ich fand, dass wir in der Abwehr, vor allem im Mittelblock, noch nicht so kompakt waren, wie wir es kennen oder wie die Spieler es können. Wir wurden dort immer wieder empfindlich getroffen. Im Angriff fehlte es noch an Durchschlagskraft, was sicherlich auch daran lag, dass Köster nicht fit war. Insgesamt wirkte das Spiel noch etwas ruckelig. Aber ich finde das überhaupt nicht schlimm. Wenn alles zu früh perfekt läuft, und man zu früh glaubt, dass alles funktioniert, dann ist das nicht unbedingt immer der beste Gradmesser für den späteren Erfolg.
ran: Gislason hat gesagt, er mache sich Sorgen. Sind diese berechtigt?
Bitter: Er macht sich Sorgen, weil er sich mehr umgesetzte Qualität auf dem Feld gewünscht hätte. Dennoch glaube ich, dass er ein großes Grundvertrauen in die Mannschaft hat, basierend auf den Leistungen der letzten Monate und Jahre. Es wird jetzt entscheidend sein, wie das Team ins Turnier startet. Gegen Polen darf man sich keine schwache erste Halbzeit leisten, weil es dann hinten raus knapp werden könnte.
ran: Das DHB-Team gilt in der Gruppe als Favorit. Worauf kommt es gegen Polen, die Schweiz und Tschechien an?
Bitter: Polen hat in der Vorbereitung einige respektable Ergebnisse erzielt und befindet sich nach einem Umbruch auf einem guten Weg. Es ist nicht leicht, sie aktuell einzuschätzen. Wichtig wird sein, dass wir die Spiele in der Vorrunde kontrollieren können. Das ist ein hohes Ziel, aber auch der größte Hebel für den Erfolg in dieser Phase. Wenn wir es schaffen, die Spiele zu dominieren, sollte der Einzug in die nächste Runde kein Problem sein.
ran: Wer gehört für Sie konkret zu den Titelfavoriten?
Bitter: Dänemark steht für mich an erster Stelle, dicht gefolgt von Frankreich. Dann gibt es Teams wie Norwegen und Schweden, die ebenfalls sehr stark sind. Kroatien würde ich nicht ganz vorne sehen, aber sie haben eine spannende Mannschaft und einen interessanten Trainer. Mit der Heim-WM-Stimmung, auch wenn sie nur teilweise in Kroatien stattfindet, könnten sie ein gefährlicher Außenseiter sein.
ran: Um nochmal darauf zurückzukommen, weil Sie es ja selbst erlebt haben: Was löst so ein WM-Titel aus?
Bitter: Weltmeister bleibt man für immer. Dieses Prädikat begleitet dich und ist eine absolute Auszeichnung für deine Karriere und deinen Weg. Es zeigt, dass du Großes erreicht hast. Natürlich wird damit auch eine Erwartungshaltung verbunden und kann ein Problem werden, wenn es mal nicht läuft. Aber grundsätzlich ist es ein Titel, der für immer Bestand hat.
Johannes Bitter: "Das Potenzial der Mannschaft ist aktuell noch nicht ausgeschöpft"
ran: Sie hatten es anfangs ja schon angerissen: Unabhängig vom Abschneiden bei diesem Turnier - wie sehen Sie die Perspektive der Mannschaft? 2027 steht ja die Heim-WM an…
Bitter: Ich glaube, das Potenzial der Mannschaft ist aktuell noch nicht ausgeschöpft, und das meine ich im positiven Sinne. Viele Spieler werden ihren Karriere-Höhepunkt erst in zwei, drei oder vier Jahren erreichen. Deshalb sollten wir dieser Mannschaft die Zeit geben, sich weiterzuentwickeln. Diese Turniere im eigenen Land bieten große Chancen, sowohl für die Spieler als auch für den Handball in Deutschland. Die Erwartungshaltung, sowohl von innen als auch von außen, wird in den kommenden Jahren steigen. Ich denke, wir haben noch nicht den Peak erreicht.
ran: Das Abschneiden bei großen Turnieren stärkt den Handball insgesamt. Wo steht der Sport hierzulande aktuell?
Bitter: Handball steht nach dem Fußball auf einer sehr stabilen zweiten Position in Deutschland. Ich habe das Gefühl, dass wir uns dort etabliert haben. Es gab zuletzt hervorragende Erfolge im Basketball, aber in der Breite sind wir als Verband größer und nachhaltiger aufgestellt. Es gibt keine Konkurrenzsituation zwischen den Sportarten. Jeder freut sich über Titel für Deutschland, egal wo. Dennoch hat der Handball durch die stärkste Liga der Welt, die wir hier in Deutschland haben, einen besonderen Stellenwert, den wir weiter verteidigen können.
ran: Trotz der ganzen Erfolge: Welche Herausforderungen hat der Handball zu meistern?
Bitter: Hallenzeiten sind ein großes Thema. In Deutschland gibt es einen regelrechten Kampf um Hallenkapazitäten, was es schwierig macht, die Euphorie nach großen Erfolgen in aktive Sportpraxis umzusetzen. Es ist wichtig, dass neue Mitglieder auch tatsächlich die Möglichkeit haben, regelmäßig zu trainieren. Ein weiteres großes Thema ist die nachhaltige Gewinnung von Trainern und Übungsleitern. Gerade im Ehrenamt wird es immer schwieriger, genügend Menschen zu finden, die sich engagieren. Sportpolitisch gibt es ebenfalls offene Fragen. Bleibt Handball olympisch? Obwohl ich aktuell nicht glaube, dass sich daran etwas ändert, sind solche Diskussionen immer präsent. Es wäre ein Desaster, wenn Handball den olympischen Status verlieren würde. Gleichzeitig könnten Olympische Spiele in Deutschland dem Sport enorm helfen – sei es durch neue Hallen oder größere Aufmerksamkeit. Insgesamt läuft es sportlich sehr gut, aber wir müssen an den strukturellen Themen arbeiten, um diese Erfolge nachhaltig abzusichern und weiterzuentwickeln.