Olympia 2024 – Bilanz des Schreckens: Generalkritik an den deutschen Athleten ist zu billig - ein Kommentar
Veröffentlicht: 11.08.2024
19:36 Uhr
Andreas Reiners
Eine Generalkritik an den deutschen Sportlern für das schlechte Abschneiden in Paris greift zu kurz. Reformen müssen endlich angegangen werden. Ein Kommentar.
Das sind die Zahlen des Schreckens. Beweise für das Mittelmaß, Gradmesser für den Absturz, den Niedergang.
Der Reflex wird fast automatisch kommen nach den Olympischen Spielen, er wird Einzug halten in die diversen Analysen. Nicht zu Unrecht, die Fakten sind ja nicht von der Hand zu weisen, denn der zehnte Rang im Medaillenspiegel ist für Deutschland das schlechteste Abschneiden seit 1952 und unterstreicht nochmals den Negativtrend seit der Wiedervereinigung.
Man hatte sich mehr erhofft, doch zwölf Gold-, 13 Silber- und acht Bronzemedaillen ist das, was in Paris aus deutscher Sicht möglich war. Die ebenso automatische und oft allgemeine Kritik an den Sportlern greift viel zu kurz.
Denn wichtig ist auch immer der zweite Blick, die Suche nach den Gründen dafür, dass die Ausbeute bei den Spielen schlechter wird. Und da gibt es keine Schwarz-Weiß-Beurteilung, denn die Ursachenforschung ist vielschichtig und kompliziert, sonst hätte man die Probleme vermutlich schon längst gelöst.
Fakt ist, dass sich viele dieser Probleme gegenseitig bedingen. In einigen Sportarten gibt es weniger Talente, weil es schlicht weniger Nachwuchs gibt. Was zum Beispiel auch daran liegt, dass die Vorbilder fehlen. Weil weniger Talente eben auch weniger Helden zur Folge haben, die Kinder in diese Sportarten ziehen.
Wie man es richtig macht, hat der Deutsche Basketball-Bund gezeigt, der in den 2000er-Jahren die Nachwuchsarbeit gestärkt hat und nun die Früchte erntet, angekurbelt von Vorbildern wie Dennis Schröder oder die Wagner-Brüder und historischen Erfolgen.
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Bürokratie lähmt den Spitzensport
Doch das ist kein Selbstläufer, die Baustellen sind ebenso zahlreich wie die Ansätze, außerdem löst man diese Probleme nicht von jetzt auf gleich. So müssen der Schul- und der Breitensport gefördert werden. Es braucht eine starke und breite Basis, eine exzellente Grundlage, um eine Spitze zu formen, die die gestellten Ansprüche wieder erreicht oder vielleicht sogar übertrifft.
Die Bürokratie muss deutlich weniger werden, sie lähmt den ganzen Sportapparat. Was ein System ist, das sich in vielen Punkten selbst im Weg steht. Im Zentrum dabei: Das Bürokratiemonster "Potenzialanalysesystem". Kurz gesagt, wird beim "PotAS" durch ein kompliziertes Verfahren anhand eines Kriterinkatalogs ermittelt, in welchen Sportarten die Chancen auf olympische Medaillen am größten sind. Ein Tool, das sich als zu aufwändig und unflexibel erwiesen hat und verbessert werden soll.
Olympia 2024: Gewinner und Verlierer von Team Deutschland in Paris
Olympia 2024: Gewinner und Verlierer von Team Deutschland Die olympischen Sommerspiele in Paris 2024 sind vorbei, alle Medaillen wurden vergeben. Für einige deutsche Athleten wurde der Traum von Edelmetall wahr, zahlreiche Top-Stars und Favoriten aus Team D konnten die hohen Erwartungen aber nicht erfüllen.(ran-Kommentar: Das muss sich jetzt ändern.) ran zeigt die deutschen Gewinner und Verlierer der Spiele.
Gewinner: Yemisi Ogunleye Der Wettkampf endet erst mit dem letzten Versuch. Diese Weisheit untermauerte die Kugelstoßerin eindrucksvoll. Mit exakt 20 Metern katapultierte sich Ogunleye im 6. Versuch noch auf Platz eins. Die bis dato Führende Maddison-Lee Wesche aus Neuseeland konnte nicht mehr kontern und musste sich doch noch nur mit Silber begnügen.
Gewinner: Leo Neugebauer Unfassbarer Wettbewerb im Zehnkampf der Männer. Leo Neugebauer lag zwischenzeitlich auf Goldkurs. Am Ende musste er sich aber dem Norweger Markus Rooth geschlagen geben, der im Laufe der Disziplinen eine persönliche Bestmarke nach der anderen aufstellte. Aber: Die Silbermedaille glänzte dennoch ein wenig golden, zumal Neugebauer deutlich sein Potenzial als neuer Superstar des DLV zeigte - so frisch, so sympathisch und so positiv er sich in Interviews präsentierte.
Gewinner: Handballer Die deutschen Handballer spielten ein bärenstarkes Turnier und verdienten sich die Silbermedaille. Die Siege über Frankreich nach Verlängerung im Viertelfinale und Spanien im Halbfinale waren ein Statement. Am bärenstarken Auftritt der DHB-Herren trübt auch die 26:39-Rutsche gegen den haushohen Favoriten Dänemark nichts. Auch, wenn der Schock über den Klassenunterschied zunächst überwog. Mit Silber hatte vor dem Turnier kaum einer gerechnet.
Gewinner: Basketballer Gleiches wie für die Handballer gilt auch für die Basketball-Herren, auch wenn nach einem insgesamt erneut starken Turnier die Medaillen knapp verpasst wurden. Nach dominanter früher Turnierphase gingen den Weltmeistern um Dennis Schröder und Co. diesmal im Halbfinale gegen Frankreich und Bronze-Match gegen Serbien die Puste aus. Dennoch ist der DBB weiter nah dran an der absoluten Weltspitze - es war das beste Ergebnis bei Olympia ever.
Gewinner: 3x3 Basketballerinnen Was für ein unfassbares Turnier der deutschen 3x3-Basketballerinnen, die diverse Spiele auf Messers Schneide für sich entscheiden konnten und völlig zurecht Gold im Finale gegen Spanien mit 17:16 gewannen. Das Quartett Svenja Brunckhorst, Sonja Greinacher, Elisa Mevius und Marie Reichert bewies in den entscheidenden Momenten steht die besseren Nerven als ihre Gegnerinnen.
Gewinner: Deutsche Dressur- und Springreiter Reiten geht bei Olympia nur über Deutschland. In der Dressur wurde die deutsche Vormachtstellung zementiert. Mit Gold im Teamwettbewerb sowie Einzelgold bei den Männern durch Michael Jung sowie Gold und Silber bei den Damen durch Jessica von Bredow-Werndl und Isabell Werth waren eine Wucht. Im Springreiten sicherte sich Christian Kukuk im Stechen dann sogar auch noch Gold.
Gewinner: Beachvolleyballer Die "Beach Boys" Nils Ehlers und Clemens Wickler gewannen unter der traumhaften Kulisse direkt vor dem Eifelturm sensationell Silber. Im Finale zerplatzte mit 0:2 gegen die favorisierten Schweden David Ahman und Jonatan Hellvig zwar der Traum von Gold, dennoch übertraf das Duo die Erwartungen um Längen. Vor den Spielen zählten sie zwar zum erweiterten Favoriten-Kreis, aber nicht zu den aussichtsreichsten Medaillenkandidaten.
Gewinner: Angelique Kerber Wie angekündigt beendet die langjährige deutsche Nummer eins im Tennis nach den Olympischen Spielen ihre hochdekorierte Karriere. Auf dem vertrauten Gelände der French Open in Roland Garros lieferte die 36-Jährige aber noch einige denkwürdige Schlussakkorde ab. In Runde eins war bereits nach zwei Sätzen für die favorisierte Japanerin Naomi Osaka Schluss. Kerber schnupperte sogar an einer Medaille, unterlag im Viertelfinale im Tiebreak des 3. Satzes jedoch der Chinesin Zheng Qinwen.
Gewinner: Tischtennis Damen Deutschlands hat einen neuen Tischtennisstar! Die erst 18-jährige Annett Kaufmann spielte in Paris groß auf und schockte reihenweise deutlich besser in der Weltspitze platzierte Spielerinnen. Auch wenn es im Bronze-Duell mit Südkorea ein deutliches 0:3 setzte, spielte das Team um die neue Hoffnungsträgerin ein bärenstarkes Turnier. Im Halbfinale gegen Japan schlug Kaufmann sensationell sogar die hochfavorisierte 16-Jährige Miwa Harimoto.
Verlierer: Alexander Zverev Ernüchterung für Titelverteidiger Zverev in Paris. Der Goldmedaillen-Gewinner von Tokio 2021 musste sich dem Italiener Lorenzo Musetti im Viertelfinale bereits nach zwei Sätzen geschlagen geben. Nach dem Aus klagte der 27-Jährige über anhaltende körperliche Probleme. Zverev habe schon zuvor beim Turnier in Hamburg gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Da er dort bereits "sehr schnell müde" geworden war, werde er nun der Ursache auf den Grund gehen.
Verlierer: 4x400m Mixed-Staffel Der Wettbewerb der deutschen 4x400m Mixed-Staffel geriet fast in den Hintergrund, Nebenkriegsschauplätze um die Läufer- und Läuferinnen bestimmten das Geschehen. Jean Paul Bredau und seiner Freundin Luna Bulmahn stieß die Nichtberücksichtigung Letzterer sauer auf. Statt Bulmahn bekam Social-Media-Star Alica Schmidt den Vorzug ...
Verlierer: 4x400m Mixed-Staffel Die Bevorzugung von Schmidt und die Kommunikation im Team sorgten für reichlich Unstimmigkeiten. Freund Bredau sollte auf der Laufstrecke als Startläufer massiv enttäuschen und das Team dadurch früh um eine Medaillenchance bringen. Was folgte war viel Drama und Hetze im Netz gegen Bredau und Bulmahn, die für die Misstöne innerhalb der Mannschaft sogar komplett aus dem deutschen Aufgebot für die weiteren Staffeln flog.
Verlierer: Niklas Kaul Im Gegensatz zu Silbermedaillen-Gewinner Neugebauer war für Ex-Weltmeister Kaul bereits nach einem überaus enttäuschenden ersten Wettkampftag der Traum von einer Medaille im Zehnkampf geplatzt. Der 26-Jährige werde nun in die Analyse gehen, woran es in mancher Disziplin gelegen habe. Danach gilt der Fokus aber direkt der Vorbereitung für Los Angeles, wo die Olympischen Sommerspiele 2028 stattfinden.
Verlierer: Deutschland-Achter Ernüchterung für das deutsche Ruder-Aushängeschild. Das erste Mal seit 16 Jahren ging der Achter bei Olympischen Spielen leer aus. Das Boot um den neuen Schlagmann Torben Johannesen landete im Finale nur auf dem vierten Platz. Mit 4,52 Sekunden Rückstand aufs Treppchen wurde die erhoffte Medaille deutlich verpasst.
Verlierer: Ricarda Funk Drama um die Goldgewinnerin von Tokio! Ricarda Funk war als Doppelolympiasiegerin mit großen Träumen zu den Spielen nach Paris gereist. Im Wettbewerb sah es dann erneut großartig aus, Funk lag lange auf Goldkurs. Dann aber der Schock sie verfehlte in Führung liegend ein Tor – und wurde schließlich abgeschlagen nur Elfte.
Verlierer: Tischtennis Männer Keine Medaille gab es für die deutschen Tischtennis Männer. Im Viertelfinale setzte es gegen Schweden ein deutliches 0:3. 2021 in Tokio hatte es das deutsche Team noch bis ins Finale geschafft und unterlag erst Top-Favorit China. Doppelt Bitter: Das vorzeitige Aus war gleichbedeutend mit dem letzten Olympia-Spiel von Legende Timo Boll - dem langjährigen Aushängeschild des Tischtennissports in Deutschland.
Verlierer: Florian Wellbrock Komplett gebrauchte Spiele erlebte der ehemalige Top-Schwimmer. Über 800 Meter und 1500 Meter scheiterte Wellbrock bereits völlig ratlos im Vorlauf aus. Auf der Langdistanz hatte er in Tokio noch Bronze gewonnen. Und auch im Freiwasserschwimmen über zehn Kilometer war der 26-Jährige bei seiner versuchten Titelverteidigung trotz zwischenzeitlicher Führung am Ende mit Platz acht chancenlos.
Verlierer: Fechten Einst war Deutschland eine große Fechtnation. 13 Olympiasieger und mehr als 40 Medaillengewinner hatte die Sportart hervorgebracht. Doch diese Zeiten sind vorbei. Ohnehin war man mit dem kleinsten Aufgebot seit 68 Jahren am Start - nur Florettfechterin Anne Sauer und der Säbelspezialist Matyas Szabo durften auf Medaillenjagd gehen. Davon waren sie aber schlussendlich weit entfernt. Beide schieden im Viertelfinale aus.
Noch besser wäre eine komplette Abschaffung gewesen, denn nicht zuletzt die Basketballer, die von dem umstrittenen System als weniger förderungswürdig bewertet wurden als die Leichtathleten, haben es ad absurdum geführt und die Fehleranfälligkeit offengelegt.
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Leistung muss sich lohnen
Es braucht eine Reform der Sportförderung, dazu müssen Trainer besser ausgebildet und unterstützt werden. Training und Ausbildung müssen im Mittelpunkt stehen (können), indem die dazu passenden Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Und Leistung muss honoriert werden, sie muss sich lohnen.
Denn ein Teil des Dilemmas zeigt sich ganz gut in den Medaillenprämien. 20.000 Euro gibt es für Gold, 15.000 für Silber, 10.000 für Bronze, zudem weitere Prämien bis zu Platz acht, die von 5.000 bis 1.500 Euro reichen. Im Vergleich zu manch sechsstelligen Summen in anderen Ländern ist das eher eine Aufwandsentschädigung.
Besonders bezeichnend aber: Kann ein Athlet mehrere Medaillen holen, wird lediglich die beste Platzierung honoriert. Die anderen Medaillen fallen so quasi unter den Tisch. Die Wirkung nach außen? Desaströs.
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Probleme wurden erkannt
Immerhin: Es tut sich etwas. Olaf Tabor, Chef de Mission des Team D und DOSB-Vorstand Leistungssport, betonte in der Bilanz-Pressemitteilung am Sonntagabend, dass man die Veränderungspotenziale im deutschen Leistungssportssystem kenne und aktuell mit der Politik das erste Sportfördergesetz auf Bundesebene auf den Weg bringe.
"Darin ist auch die Schaffung einer unabhängigen Sportagentur enthalten. Für eine wieder erfolgreiche Entwicklung brauchen wir Entbürokratisierung und Flexibilisierung sowie mehr Investitionen in den Leistungssport", sagte er: "Ich bin überzeugt, dass wir mit den anstehenden Reformen unseren Athlet*innen, Trainer*innen und allen, die im deutschen Leistungssportsystem tätig sind, in Zukunft wieder bessere Bedingungen bieten können."
Dafür braucht es aber nicht nur warme Worte, nichtssagende Bundeskanzler-Besuche oder noch so ambitionierte Pläne. Sondern vor allem eine schnelle und effiziente Umsetzung.
Denn sonst bleibt eine Generalkritik an den Athleten auch in Zukunft zu billig.